Samstag, 24. November 2007

zwischen die zeilen gewischt

„wischen impossible“ – das scheitern
an den zeilen, an den dazwischensachen,
an der notwendigkeit des schweigens
im sagen.

das treppenhaus wär’ auch mal wieder dran,
der plan im hausflur: erste und dritte woche:
rechts; zweivier: links –
mein recht darauf seit monaten versäumt.

kehrwoche als einkehr in heimat,
in etwas, was sicherheit gäbe:
die des alltags,
den ich nicht stattfinde.

stattdessen von rausch zu rausch
das rauchen entzündet, dies nuckeln
an pinnen jenseits steuerbord.
„und wenn einem zossen jetzt die rudermaschine

versagt ...“, im sturm der herbste,
der meere, des lebens, der unsagbarkeit,
der generellen. das nicht-sagen
assistiert mit mullbindender eleganz.

wenn die verse zäh sind,
nicht grooven, wenn das wischen
durch keine flure geht,
nur tränen von der geröteten wange.

Freitag, 9. November 2007

fenster.sims

der blick vom dateifenster auf die straße:
die sanftmut von autos. geräusch:
das träge surren der heizungsventilation.
ich werde vollklimatisiert.

auf dem sims außer gardine und leerer weiße,
von mir vor mich hin gestellt, drei flaschen:
cola light, whisky und shampoo.
sie ragen nahtlos passend in das panorama der häuser.

im siebten stock eines hochgehäuses
die zelle, versorgt mit allen tasten und tränen
nach draußen, tv, wlan, nasszelle.
weniger gefängnis als die inneren gittergestäbe.

fast könnte man hier dauerhaft einziehen.
mehr braucht man nicht: das täglich gemachte bett,
die ausgetauschten handtücher, obwohl
man sie über den galgen hängte,

der sagt: „ja, ich benutze dieses leben nochmal“,
es ist noch nicht dreckig genug,
heruntergekommenheit nur schein,
auf den hund nur haustierhaft gekommen.

im lauf der behausungen habe ich mich verjüngt.
meine unerwachsenheit, einst auf zwölf geschätzt,
zählt nurmehr noch die jahre eines neunjährigen.
ich fühle mich wie ein halbjahrhundertnichtereignis.

im spiegel des fensters, um die ecke geguckt,
das kind, der junge,
wie er sich vertieft unter finsterer stirn
in einen prospekt.

alles lesen, was da ist!
aus dem fenster schauen auf alles, was sich noch bewegt!
wie irr bin ich am sims gerührt,
weil ich wiedererkenne, was nie war.

Sonntag, 21. Oktober 2007

apparatur für nächtliche bestrahlung

naechtliche_bestrahlung

bildgebende verfahren 1

Mittwoch, 5. September 2007

hingefallen, aber kein engel

ich glaube den waschmaschinen,
dass sich der globus dreht
und um eine sonne kreist,
nicht zentrum, sondern peripherie
der galaxie. ich glaube,
dass kühlschränke meine nahrung
sachgerecht kühlen,
bevor sie mich verzehrt.
also kann ich nicht glauben, ich weiß,
woran ich glauben kann:
an das hinfallen etwa, den schorf
an den kinderknien,
den kein engel erklären muss,
aber menschen mir,
dem gläubigen kind, immer noch
und immer wieder heilheile segnen.

Samstag, 2. Juni 2007

Die Lehren der Leere

Rocko Schamoni über die leeren Zeiten lange nach Punk.

Zum Abschluss der Ausstellung „Kein Kiel – Post-Punk und No Wave, Kieler Musikszene 1977-1982“ in der Kunsthalle las Rocko Schamoni – nach eigenem Bekunden „das definitiv letzte Mal“ – aus seinem autobiografischen Roman „Dorfpunks“. Im April erschien bei Dumont sein dritter Roman, im Januar seine womöglich letzte Platte. KN-Mitarbeiter Jörg Meyer sprach mit dem in Lütjenburg aufgewachsenen Multitalent über das, was „post“ Punk kam oder noch kommen könnte.


In „Dorfpunks“ beschreibst du nicht ohne Selbstironie eine Jugend, die Anfang der 80er mit Punk rebelliert, zu einer Zeit, als Punk eigentlich schon passé war. War das also Post-Punk?

Wir fühlten uns direkt im Zentrum von Punk. Das hatte eine originäre Energie. Aber wir hörten auch No Wave, ABC, Exploited, Discharge, alles bunt vermischt. Ob das Punk war oder „post“, war uns egal, wir hielten es für Aufbruch.

Eine Art „postmoderner“ Eklektizismus?

Für Eklektizismus muss man ein Bewusstsein davon haben, dass etwas vorbei ist, dass man eine vergangene Spur wieder aufnimmt. Das hatten wir nicht, für uns war das ein einziges lebendiges Jetzt.

In deinem neuen Roman „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“ ist der Held nicht mehr auf dem Dorfe, sondern in der Großstadt, kein jugendlicher Kraftmeier, sondern ein desillusionierter Loser. Ist das die Fortsetzung von „Dorfpunks“?

Das hätte der Verlag gerne so gehabt. Ich nenne es eine „gefühlte Fortsetzung“, denn es geht hier um etwas anderes. Punk war als Jugendbewegung ein Vehikel um sich zu befreien. Ab 30 wird das obsolet, da ist man befreit oder eben auch nicht, auf jeden Fall ist man nicht mehr Jugend. Es ist das Buch nach der Loslösung vom Vehikel Punk.

Und so autobiografisch wie „Dorfpunks“?

Nein, dann hätte ich einen Dieter-Bohlen-mäßigen Enthüllungsroman schreiben müssen. Hier sind 30 Prozent erlebt, 30 Prozent von anderen gehört, 30 Prozent frei erfunden und die restlichen 10 Prozent sind einfach Quatsch.

Apropos „Quatsch“: Der zieht sich durch dein gesamtes Schaffen, als Autor, als Musiker, als Entertainer und auch als Teil der Anarcho-Comedy-Truppe Studio Braun. Ist das so eine Art Gegenstrategie, etwas subversiv Subkulturelles, in dem die Haltung „Punk“ fortlebt?

Ja, eine Verweigerungshaltung – auch der Warteschleife Leben gegenüber – als imperatives Kontra, eine Sperrigkeit und Widerborstigkeit, die sich auch viele meiner mit mir älter gewordenen Kollegen bewahrt haben. Vielleicht ist das ein Echo von Punk, aber das Wort ist für mich nur noch Erinnerung. In dem neuen Buch geht es um die Lehren der Leere. Für den Ich-Erzähler ist die Leere, die er empfindet, ein Weg zu begreifen, wer er ist. Manche gehen in die Lehre um erwachsen zu werden, andere in die Leere.

Und in welche Lehre/Leere gehst du jetzt? Schreiben oder Musik Machen, Entertainen oder alles zusammen?

Das Schreiben war zunächst eine Zugabe, aber das Leben hat sich durch mich hindurch gegen die Musik und wohl fürs Schreiben entschieden. Das jüngste Album, das ich mit der Band Little Machine einspielte, könnte mein letztes sein. Denn man zahlt da nur noch drauf. Eine gut produzierte Indie-Platte kostet läppische 6.000 Euro, aber die spielst du damit nie und nimmer mehr ein. Ich weiß nicht, welche Sauereien der liebe Gott mit mir noch vor hat, es verändert sich gerade so viel in der Welt und einem selbst. Was ein guter Zustand für Kunst ist. Gute Kunst wächst auf dem Acker der Verheerung und Kaputtheit, das war schon immer so. Vielleicht manage ich weiter den Hamburger Golden Pudel Club, aber eigentlich hätte ich lieber eine Fahrradwerkstatt. Etwas gegen all die verblasenen Begriffe des Business: „Unterhaltung“ zum Beispiel – ich wünsche mir das Ende der Unterhaltung.

Am 21. September liest Rocko Schamoni im Metro-Kino aus „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“.

Sonntag, 15. April 2007

Hier kommt „Flock’n’Roll“!

Die Flowerpornoes kamen nach elf Jahren zurück in die Hansastraße 48.

Kiel – Die OP-Anzüge, in denen die Flowerpornoes eigentlich auftreten wollten, sind auf dem Postweg zur „Beflockung“ leider verschütt’ gegangen, Keyboarderin Birgit Quentmeier ist zum Start der Reunion-Tour nach elf Jahren in der Hansastraße 48 leider verhindert und auch die neue CD hat Tom Liwa leider vergessen mitzubringen.

Egal, „Hier kommt Rock’n’Roll“ – auch mit Stuhl statt Bernsteinkette an Liwas Hals, mit „nur“ Markus Steinbach am die Riff-Verlockungen sicher umschiffenden Bass und Stefan Küpper auf Drums, die auf Drive verzichten können, weil sie ihn haben. Und „mit ohne“ CDs, denn auf sowas wie Pop-Bizz und Promo haben die Flowerpornoes eh immer ihr eigenes Lied gepfiffen. Rock’n’Roll? Vielleicht eher „Flock’n’Roll“, welches Wortspiel in der intim besuchten Hansastraße die Runde macht und treffsicher wie Liwas Verse („Wir hatten Glück in der Liebe und Spiel im Pech“) das beschreibt, was er Anfang der 90er neu erfand und was geschätzte drei Generationen von nachfolgenden Bands als Duisburger Ur-Meter geeicht hat: Rock’n’Roll mit dem Bohème-Faktor Poesie, die Selbstinszenierung gegen sich selbst im Text – mit psychoanalytischer Präzision.

Von Liwas Solo-Auftritten ist man dieses doppelbödige Spiel mit dem Spiel von „Jungs mit Ego-Problemen“, das Rock’n’Roll ja immer auch ist, gewohnt. Mancher meinte, den zwischen den Songs Heilwasser (wohlgemerkt: nicht Weihwasser) trinkenden Liwa in die Esoterik abdriften zu sehen. Gleichwohl, Liwas Geheimbund war immer der mit dem Text, der so paradoxe Fragen stellt wie „Ist es die Erdkraft, die mich nach oben treibt, oder zieht mich die Sonne zum Licht?“ Anziehungs- und Abstoßungskräfte, Liebe, Leben, Dichten – von Glaube, Liebe, Hoffnung nicht zu schweigen – versus deren Einsamkeit auf dem deutschsprachigen Rock’n’Roll-Olymp. Dabei sich so schratig zu inszenieren wie Liwa, der sich in der „doom-mäßig langsamen“ Zugabe wie in einer Persiflage des finalen Gitarren Zerdepperns mit selbiger am Boden wälzt und sich mit seinen Trio-Partnern eine Sofakissenschlacht liefert, darf man als das selbe poetische Programm lesen, mit dem die Flowerpornoes-Reunion-CD titelt: „Wie oft musst du vor die Wand laufen, bis der Himmel sich auftut?“

Wo Bob Dylan, dem Liwa nicht unverwandt ist, vorsichtig „on Heaven’s Door knockte“, gehen die Flowerpornoes mit dem Kopf durch die Wand ins Himmelreich ein. Auch musikalisch: Melodiös ohrwürmig-poppige Nummern wie „Österreich“ osmotisieren durch ihre Zellwand ebenso ins Balladenhafte wie in punkige Gitarrenrückkopplungsorgien. Eine Blut-Hirn-Schranke gibt es nicht. Mitten im zuweilen intellektuell verdröselten Wortgemetze pumpt das lebendige Herz. Liwa singt: „Manchmal wünsch’ ich mir, ich hätt’ ein Herz aus Stein. Ich versuch’s, aber es ist völlig unmöglich der Liebe zu entkommen.“ Yeah! That’s „Flock’n’Roll“!

Flowerpornoes bei MySpace

Mittwoch, 28. März 2007

Kieler Literaturtelefon ab April privat organisiert

(Dokumentiert: Pressemitteilung der Landeshauptstadt Kiel, 28.3.2007)

Wachwechsel am Kieler Literaturtelefon: Bislang war die Stadt für die wöchentliche Lesung am Telefonhörer verantwortlich, von April an organisieren drei Kieler Autoren den Ansageservice. Die Telefonnummer (0431) 901-1156 bleibt erhalten, dazu erobert das Kieler Literaturtelefon nun auch das Internet.

Mitte der 70er Jahre stieß der Kieler Literatur-Student Michael Augustin in London auf eine Zeitungsanzeige: „Dial a poem – Ruf ein Gedicht an!“ Diese Idee begeisterte den jungen Autor so sehr, dass er nach seiner Rückkehr gemeinsam mit dem damaligen Kulturdezernenten Dieter Opper ein ähnliches Projekt ins Leben rief: das Kieler Literaturtelefon, das erste in Deutschland.

„Technisch war das damals natürlich noch nicht so ausgereift, die Texte wurden einfach auf einen Anrufbeantworter gesprochen“, erinnert sich Augustin, von dem der allererste Beitrag für das Kieler Literaturtelefon im März 1978 stammte. Später traf er auch den Gründer des weltweit ersten Literaturtelefons in den USA, John Giorno, der zum Kreis um Andy Warhol gehörte.

Kiel war somit vor 29 Jahren die erste deutsche Stadt, die dieses kulturelle Angebot für Literaturinteressierte installierte. Viele Städte folgten, die meisten gaben aber spätestens dann auf, als die Telekom die Literaturtelefone aus ihrem Ansageprogramm heraus nahm, weil diese nicht genügend Geld einbrachten. Die Landeshauptstadt Kiel wollte dieses Kulturprogramm per Telefon jedoch erhalten. Seit Oktober 2001 betrieb das Kulturamt (heute: Amt für Kultur und Weiterbildung) deshalb das Literaturtelefon in Eigeninitiative. Die Ziele des Literaturtelefons damals wie heute: Förderung von Autorinnen und Autoren durch Bekanntmachen ihrer Bücher, Förderung des Lesens durch Schaffen von Leseanreizen.

Das Literaturtelefon bot und bietet ganz private Autorenlesungen, gemütlich auf der eigenen Couch zu Hause, auf der Bank im Park oder sogar in der Badewanne. Nachwuchsautoren stellen sich einem größeren Publikum vor, bekannte Schriftsteller präsentieren ihre neuesten Werke. Fast alle lebenden deutschsprachigen Autoren von Rang und Namen haben dem Kieler Literaturtelefon schon ihre Stimme geliehen, darunter Günter Grass, Siegfried Lenz, Peter Härtling, Sarah Kirsch und Hans-Jürgen Heise.

Bislang bot das erste – und mittlerweile eines der letzten – deutschsprachige Literaturtelefon bei Anruf Wort. Im wöchentlichen Wechsel konnten Anrufer Ausschnitte aus Romanen, Kurzgeschichten und Gedichte hören. Die Aufnahmen waren jeweils etwa fünf Minuten lang und konnten rund um die Uhr abgehört werden, für Kielerinnen und Kieler zum Ortstarif.

16 Jahre lang wurde das Literaturtelefon von Kulturamt-Mitarbeiterin Angelika Stargardt betreut. In der letzten Aufnahme unter ihrer Regie ist in dieser Woche der bekannte Kieler Schriftsteller Feridun Zaimoglu zu hören. Mit dem 1. April endet die Ära des Literaturtelefons als städtische Einrichtung.

Nun wird das altmodische Telefon nicht etwa gekappt, sondern durch ein neues Medium ergänzt, denn heutzutage tummelt sich die gesprochene Literatur im Internet. Kulturdezernent Gert Meyer will die Literatur weiterhin fördern und möglichst neue Hörer- und Leserkreise ansprechen. So übergibt die Stadt das Literaturtelefon in private Hände, sorgt aber nach wie vor für die Finanzierung und den städtischen Telefonanschluss.

War das Kieler Literaturtelefon 1978 das erste am Telefonhörer, so ist es 2007 eines der ersten im Internet. Dafür sorgen drei Kieler Literaturinteressierte: Die Autoren und Literatur-Event-Veranstalter Björn Högsdal und Patrick Kruse, die unter dem Label assembleART.com firmieren und die unter anderem das Format Poetry Slam in Kiel und darüber hinaus etabliert haben, sowie der Kieler Journalist, Autor und Literatur-Podcaster Jörg Meyer treten als Triumvirat an. Sie wollen das Literaturtelefon in eine neue multimediale und global vernetzte Zukunft führen.

Über die Möglichkeiten des Internets wollen die drei vor allem junge Hörerschaften für das gesprochene Wort gewinnen – jene, die über die zwei Kupferdrähte der Telekom nicht nur telefonieren, sondern sich weltweit ins Netz klicken. Dabei sollen diejenigen, die sich nach wie vor über Dichtung am Telefon freuen, nicht vergessen werden. Vom 2. April an wird das Kieler Literaturtelefon also wie gewohnt unter der Rufnummer (0431) 901-1156, zusätzlich aber auch im Internet unter www.literaturtelefon-online.de erreichbar sein – allerdings wechseln die Beiträge nicht mehr im wöchentlichen, sondern im 14-täglichen Rhythmus.

Das neue Literaturtelefon-Trio bietet für das gleiche Geld (rund 3.000 Euro pro Jahr für Autoren-Honorare und laufende Kosten) eine weltweite Erreichbarkeit der Lesungen des Kieler Literaturtelefons – nebst Vernetzung mit der Web 2.0-Gemeinde und einem Archiv, in dem die Lesungen der Vergangenheit auch über den Telefon-Auftritt hinaus hörbar bleiben.

Kulturdezernent Gert Meyer (links) übergibt symbolisch das Literaturtelefon an (v.l.n.r.) Patrick Kruse, Björn Högsdal, Jörg Meyer und Falk Tennstedt (Webdesign) (Foto: Günter Hoppe, 28.3.2007)


Seit das Internet nicht mehr nur ein Empfangs-Medium ist, sondern jeden Empfänger zum potenziellen Sender macht (Myspace.com und Youtube.com sind dafür nur einige der vielen Beispiele), ist es das universelle Medium für das urdemokratische „Jeder kann ein Sender sein“. Die entsprechenden Portale boomen, podster.de etwa listet täglich mehrere Dutzend neue Sender. Das Internet wird das Telefon als Medium der Sprach-Verbreitung ablösen.

Literatur war per Telefon erstmals 1978 „on line“, jetzt wird sie es via Internet noch mehr, nämlich weltumspannend. Und in nicht ganz ferner Zukunft wird man die Autorinnen und Autoren am Kieler Literaturtelefon nicht nur hören, sondern auch sehen können. An Video-Podcasts arbeiten die neuen Betreiber des Literaturtelefons noch. Sie wollen Literatur noch lebendiger, noch erlebbarer machen.

Das Literaturtelefon ist tot? Nein: Es lebe das Literaturtelefon!

www.literaturtelefon-online.de

Freitag, 23. Februar 2007

„Großartig für die Kleinen“

Die Blogger MC Winkel und Herr Paulsen in der LeseLounge.

Kiel – Nachts nach der LeseLounge noch mal fix auf www.whudat.de geklickt, könnte ja sein, dass der Kieler MC Winkel da schon gebloggt hat, wie sein Auftritt im Literaturhaus war. Weblogs oder kurz Blogs sind vor allem eines: schnell! Zur Authentizität der Selbststilisierung zur medialen Person gehört, dass das Internet-Logbuch ganz nah dran am gerade Erlebten ist. Zumal MC Winkel seinen und des Blog-Kollegen Herrn Paulsens Sofasitzung mitfilmt – Futter für sein nächstes „YouTube“-Video auf whudat.de.

Aber nein, noch nichts da. Wahrscheinlich nutzt Winkel nicht in der „Bloggosphäre“, sondern im „wirklichen“ Leben noch seine „Bier-Flatrate“. Bei täglich einigen tausend Klicks auf seinen Blog und damit unter den ersten Zehn der Blog-Charts wurden die Werber aufmerksam. Weil Winkel „überall im Blog das Wort ’Bier’ durch mein Lieblingsgetränk ’Holsten’ ersetzt“ hat, honorieren die Brauer den Blogger mit entsprechenden „Naturalien“. Ein Kollateralnutzen einer Kultur, die das Internet als Textabwurfstelle für die tägliche bis stündliche Mitteilungswut entdeckt hat. Und hunderte bis tausende Leser täglich findet – weit mehr als mancher Jungautor mit seinem Debut zwischen traditionellen Buchdeckeln in einem ganzen Jahr.

„Blogs sind großartig für die Kleinen“, weiß daher auch Stevan Paul, der unter der Web-Adresse http://antsinp.antville.org nicht nur den Blog „Dem Herr Paulsen sein Kiosk“ betreibt, sondern mit der „redereihamburg“ und den „Kaffee.Satz.Lesungen“ (samt Anthologien als Buch) den literarischen Nachwuchs vernetzt. Blogs seien die perfekte Spielwiese, „um Texte auszuprobieren“, und vor allem für die „kleine Form“ wie Kurzgeschichte oder Lyrik, den Einstieg für manches Talent in den Literaturbetrieb abseits der Verlage, die „nur Romane drucken“. Literarische Blogger finden oft spontanes Echo auf ihre Texte im weltweiten Netz, werden zu Lesungen eingeladen und manchmal mir nichts dir nichts zu Stars in der Netz-Manege.

Doch ist all das Raunen im Blog-Rummel auch Literatur? Bei Paul in jedem Fall, wie seine in der LeseLounge vorgetragenen „kulinarischen“ Kurzgeschichten zeigen. MC Winkel dagegen sieht sich selbst nicht als Literat, eher „Selbstdarsteller mit einer literarischen Ader“. Zwei unterschiedliche Formen, Blogs zu nutzen, wie der Kieler Medienwissenschaftler Prof. Dr. Jan-Oliver Decker weiß: „Die einen (wie Paul) nutzen den Blog als neue Verbreitungsmöglichkeit für ihre Texte, die anderen zur Medialisierung ihrer Person.“ Letzteres inszeniert MC Winkel multimedial. Er nutzt die neuen Möglichkeiten des „Web 2.0“, sich in unterschiedlichsten Formaten zu äußern, exzessiv und wird dabei zum MC jenseits des Mathias Winks’ mit ganz bürgerlichem Beruf. „Das Persönliche verlagert sich ins Mediale“, sagt Decker, „wird zur Idealisierung des kulturellen Normalfalls“. Und warum ist der für so erstaunlich viele Mitleser von Blogs so interessant? Weil Globalisierung und neue Techniken eben diese Normalität gefährdet erscheinen lassen – und so im Netz geradezu romantisch zum Personenkult machen.

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