Mittwoch, 28. März 2007

Kieler Literaturtelefon ab April privat organisiert

(Dokumentiert: Pressemitteilung der Landeshauptstadt Kiel, 28.3.2007)

Wachwechsel am Kieler Literaturtelefon: Bislang war die Stadt für die wöchentliche Lesung am Telefonhörer verantwortlich, von April an organisieren drei Kieler Autoren den Ansageservice. Die Telefonnummer (0431) 901-1156 bleibt erhalten, dazu erobert das Kieler Literaturtelefon nun auch das Internet.

Mitte der 70er Jahre stieß der Kieler Literatur-Student Michael Augustin in London auf eine Zeitungsanzeige: „Dial a poem – Ruf ein Gedicht an!“ Diese Idee begeisterte den jungen Autor so sehr, dass er nach seiner Rückkehr gemeinsam mit dem damaligen Kulturdezernenten Dieter Opper ein ähnliches Projekt ins Leben rief: das Kieler Literaturtelefon, das erste in Deutschland.

„Technisch war das damals natürlich noch nicht so ausgereift, die Texte wurden einfach auf einen Anrufbeantworter gesprochen“, erinnert sich Augustin, von dem der allererste Beitrag für das Kieler Literaturtelefon im März 1978 stammte. Später traf er auch den Gründer des weltweit ersten Literaturtelefons in den USA, John Giorno, der zum Kreis um Andy Warhol gehörte.

Kiel war somit vor 29 Jahren die erste deutsche Stadt, die dieses kulturelle Angebot für Literaturinteressierte installierte. Viele Städte folgten, die meisten gaben aber spätestens dann auf, als die Telekom die Literaturtelefone aus ihrem Ansageprogramm heraus nahm, weil diese nicht genügend Geld einbrachten. Die Landeshauptstadt Kiel wollte dieses Kulturprogramm per Telefon jedoch erhalten. Seit Oktober 2001 betrieb das Kulturamt (heute: Amt für Kultur und Weiterbildung) deshalb das Literaturtelefon in Eigeninitiative. Die Ziele des Literaturtelefons damals wie heute: Förderung von Autorinnen und Autoren durch Bekanntmachen ihrer Bücher, Förderung des Lesens durch Schaffen von Leseanreizen.

Das Literaturtelefon bot und bietet ganz private Autorenlesungen, gemütlich auf der eigenen Couch zu Hause, auf der Bank im Park oder sogar in der Badewanne. Nachwuchsautoren stellen sich einem größeren Publikum vor, bekannte Schriftsteller präsentieren ihre neuesten Werke. Fast alle lebenden deutschsprachigen Autoren von Rang und Namen haben dem Kieler Literaturtelefon schon ihre Stimme geliehen, darunter Günter Grass, Siegfried Lenz, Peter Härtling, Sarah Kirsch und Hans-Jürgen Heise.

Bislang bot das erste – und mittlerweile eines der letzten – deutschsprachige Literaturtelefon bei Anruf Wort. Im wöchentlichen Wechsel konnten Anrufer Ausschnitte aus Romanen, Kurzgeschichten und Gedichte hören. Die Aufnahmen waren jeweils etwa fünf Minuten lang und konnten rund um die Uhr abgehört werden, für Kielerinnen und Kieler zum Ortstarif.

16 Jahre lang wurde das Literaturtelefon von Kulturamt-Mitarbeiterin Angelika Stargardt betreut. In der letzten Aufnahme unter ihrer Regie ist in dieser Woche der bekannte Kieler Schriftsteller Feridun Zaimoglu zu hören. Mit dem 1. April endet die Ära des Literaturtelefons als städtische Einrichtung.

Nun wird das altmodische Telefon nicht etwa gekappt, sondern durch ein neues Medium ergänzt, denn heutzutage tummelt sich die gesprochene Literatur im Internet. Kulturdezernent Gert Meyer will die Literatur weiterhin fördern und möglichst neue Hörer- und Leserkreise ansprechen. So übergibt die Stadt das Literaturtelefon in private Hände, sorgt aber nach wie vor für die Finanzierung und den städtischen Telefonanschluss.

War das Kieler Literaturtelefon 1978 das erste am Telefonhörer, so ist es 2007 eines der ersten im Internet. Dafür sorgen drei Kieler Literaturinteressierte: Die Autoren und Literatur-Event-Veranstalter Björn Högsdal und Patrick Kruse, die unter dem Label assembleART.com firmieren und die unter anderem das Format Poetry Slam in Kiel und darüber hinaus etabliert haben, sowie der Kieler Journalist, Autor und Literatur-Podcaster Jörg Meyer treten als Triumvirat an. Sie wollen das Literaturtelefon in eine neue multimediale und global vernetzte Zukunft führen.

Über die Möglichkeiten des Internets wollen die drei vor allem junge Hörerschaften für das gesprochene Wort gewinnen – jene, die über die zwei Kupferdrähte der Telekom nicht nur telefonieren, sondern sich weltweit ins Netz klicken. Dabei sollen diejenigen, die sich nach wie vor über Dichtung am Telefon freuen, nicht vergessen werden. Vom 2. April an wird das Kieler Literaturtelefon also wie gewohnt unter der Rufnummer (0431) 901-1156, zusätzlich aber auch im Internet unter www.literaturtelefon-online.de erreichbar sein – allerdings wechseln die Beiträge nicht mehr im wöchentlichen, sondern im 14-täglichen Rhythmus.

Das neue Literaturtelefon-Trio bietet für das gleiche Geld (rund 3.000 Euro pro Jahr für Autoren-Honorare und laufende Kosten) eine weltweite Erreichbarkeit der Lesungen des Kieler Literaturtelefons – nebst Vernetzung mit der Web 2.0-Gemeinde und einem Archiv, in dem die Lesungen der Vergangenheit auch über den Telefon-Auftritt hinaus hörbar bleiben.

Kulturdezernent Gert Meyer (links) übergibt symbolisch das Literaturtelefon an (v.l.n.r.) Patrick Kruse, Björn Högsdal, Jörg Meyer und Falk Tennstedt (Webdesign) (Foto: Günter Hoppe, 28.3.2007)


Seit das Internet nicht mehr nur ein Empfangs-Medium ist, sondern jeden Empfänger zum potenziellen Sender macht (Myspace.com und Youtube.com sind dafür nur einige der vielen Beispiele), ist es das universelle Medium für das urdemokratische „Jeder kann ein Sender sein“. Die entsprechenden Portale boomen, podster.de etwa listet täglich mehrere Dutzend neue Sender. Das Internet wird das Telefon als Medium der Sprach-Verbreitung ablösen.

Literatur war per Telefon erstmals 1978 „on line“, jetzt wird sie es via Internet noch mehr, nämlich weltumspannend. Und in nicht ganz ferner Zukunft wird man die Autorinnen und Autoren am Kieler Literaturtelefon nicht nur hören, sondern auch sehen können. An Video-Podcasts arbeiten die neuen Betreiber des Literaturtelefons noch. Sie wollen Literatur noch lebendiger, noch erlebbarer machen.

Das Literaturtelefon ist tot? Nein: Es lebe das Literaturtelefon!

www.literaturtelefon-online.de

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