journaille

Mittwoch, 5. Dezember 2007

Der Anfang als die Furcht vor dem Ende

Annett Louisan sang im Schloss vor stehenden Ovationen.

Kiel – „Möchtet ihr wissen, was aus meiner Freundin Eve geworden ist?“, fragt Annett Louisan ins Publikum des ausverkauften Schloss’ und natürlich will das jede und jeder wissen. „Eve“ war auf dem zweiten Album „Unausgesprochen“ das Hassbild der ständig „positiv, sportiv, aktiven“ Zeitgeistfrau, die dann doch bloß „Na, Eve – naiv“ ist. Spannend, was aus ihr geworden sein mag ...

Hat sie dazu gelernt, ist sie erwachsener geworden, reifer? Oder hat sie nur zu einer anderen Zeitgeisterbeschwörung gewechselt? Letzteres, denn im Song mit dem wortspielerischen Titel „Die sein“ von Louisans Tour-Album „Das optimale Leben“ eifert „Eve“ immer noch eher dem Design als dem Sein nach. „Eve“ bleibt also die ewige Eva, Annett bleibt blond und damit das Gegenteil von blöd und der Song wirkt ein wenig wie ein „Follow up“ oder nochmal nachgetreten auf demselben, freilich sowohl textlich wie musikalisch gut gangbaren Pfad. Kurzum: Aus Annett, ist wie aus ihrer Gegenfigur Eve nichts Neues geworden. Sie macht mit dem „optimalen Leben“ da weiter, wo sie mit „Unausgesprochen“ in einem so schön offenen Ende aufgehört hat.

Das ist deshalb eine lässliche und auch nur halb eine Sünde, weil Louisans schon mit dem Debüt „Bohème“ eingeschlagener Weg Horizonte für wohl mindestens vier Alben eröffnete. Zu neu ist Louisans Wiederentdeckung des Chanson für den Pop, als dass die schon bei der dritten Liedoptimierung ausleiern würde. Dennoch: Wehret den Anfängen! Zumal wenn es in ihren neuen Songs wie immer um jene Bereiche der Liebe geht, wo die schütter, brüchig, zartes Pflänzchen oder welkende Orchidee ist – am Anfang und am Ende. So ergeben sich Paradoxien: Louisans Stimme, die auf einzigartige Weise mädchenhafte Unbekümmertheit mit der elaborierten Kunst des Chanson- und Jazzgesangs verbindet, also ebenso weise wie „naiv“ ist, wirkt gerade bei den alten Songs gereift. Da blüht sie auf, probiert neue dynamische und klangliche Möglichkeiten – wie auch im Duett mit dem Überraschungsgast, Country-Chansonnier Martin Gallop. Während sie andererseits in den neuen Songs diesen tastenden Hauch von früher hat. Was aus Annett geworden ist (und noch werden kann), dürfen wir als Parabel auf ihr Thema lesen und hören: Der Anfang als die Furcht vor dem Ende – und umgekehrt.

Mag sein, dass das „zu viel verliebt“ in die philosophische Betrachtung ist. Mag aber auch sein, dass es die besondere Stärke von Louisans (und Texter Frank Ramonds) Songs ist, derlei Reflektion beinahe zu erzwingen. Zumal wenn immer wieder diese kleinen (Chan)Son(g)wunder passieren: Warum der einfallsreichste und kompromissloseste (weil es darin um die ewigen Kompromisse geht) Song des Abends, „Die ehrliche Haut“, nur als Bonustrack den Weg auf das neue Album gefunden hat, fragen wir jetzt nicht. Einfach genießen, wie Louisan und ihre kongeniale Band (Hardy Kayser und Mirko Michalzik, git., Olaf Casimir, b., Christoph Buhse, dr., Kai Fischer, p./org. sowie die Seele der Band, Friedrich Paravicini an Wurlitzer, Bluesharp, Akkordeon und dem singenden Cello) diesen schwindelnden Tango-Walzer zelebrieren.

Und dann aufstehen zu stehenden Ovationen und den vier Zugaben, immer fürchtend, dass dieser Anfang viel zu früh zu Ende geht.

Samstag, 2. Juni 2007

Die Lehren der Leere

Rocko Schamoni über die leeren Zeiten lange nach Punk.

Zum Abschluss der Ausstellung „Kein Kiel – Post-Punk und No Wave, Kieler Musikszene 1977-1982“ in der Kunsthalle las Rocko Schamoni – nach eigenem Bekunden „das definitiv letzte Mal“ – aus seinem autobiografischen Roman „Dorfpunks“. Im April erschien bei Dumont sein dritter Roman, im Januar seine womöglich letzte Platte. KN-Mitarbeiter Jörg Meyer sprach mit dem in Lütjenburg aufgewachsenen Multitalent über das, was „post“ Punk kam oder noch kommen könnte.


In „Dorfpunks“ beschreibst du nicht ohne Selbstironie eine Jugend, die Anfang der 80er mit Punk rebelliert, zu einer Zeit, als Punk eigentlich schon passé war. War das also Post-Punk?

Wir fühlten uns direkt im Zentrum von Punk. Das hatte eine originäre Energie. Aber wir hörten auch No Wave, ABC, Exploited, Discharge, alles bunt vermischt. Ob das Punk war oder „post“, war uns egal, wir hielten es für Aufbruch.

Eine Art „postmoderner“ Eklektizismus?

Für Eklektizismus muss man ein Bewusstsein davon haben, dass etwas vorbei ist, dass man eine vergangene Spur wieder aufnimmt. Das hatten wir nicht, für uns war das ein einziges lebendiges Jetzt.

In deinem neuen Roman „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“ ist der Held nicht mehr auf dem Dorfe, sondern in der Großstadt, kein jugendlicher Kraftmeier, sondern ein desillusionierter Loser. Ist das die Fortsetzung von „Dorfpunks“?

Das hätte der Verlag gerne so gehabt. Ich nenne es eine „gefühlte Fortsetzung“, denn es geht hier um etwas anderes. Punk war als Jugendbewegung ein Vehikel um sich zu befreien. Ab 30 wird das obsolet, da ist man befreit oder eben auch nicht, auf jeden Fall ist man nicht mehr Jugend. Es ist das Buch nach der Loslösung vom Vehikel Punk.

Und so autobiografisch wie „Dorfpunks“?

Nein, dann hätte ich einen Dieter-Bohlen-mäßigen Enthüllungsroman schreiben müssen. Hier sind 30 Prozent erlebt, 30 Prozent von anderen gehört, 30 Prozent frei erfunden und die restlichen 10 Prozent sind einfach Quatsch.

Apropos „Quatsch“: Der zieht sich durch dein gesamtes Schaffen, als Autor, als Musiker, als Entertainer und auch als Teil der Anarcho-Comedy-Truppe Studio Braun. Ist das so eine Art Gegenstrategie, etwas subversiv Subkulturelles, in dem die Haltung „Punk“ fortlebt?

Ja, eine Verweigerungshaltung – auch der Warteschleife Leben gegenüber – als imperatives Kontra, eine Sperrigkeit und Widerborstigkeit, die sich auch viele meiner mit mir älter gewordenen Kollegen bewahrt haben. Vielleicht ist das ein Echo von Punk, aber das Wort ist für mich nur noch Erinnerung. In dem neuen Buch geht es um die Lehren der Leere. Für den Ich-Erzähler ist die Leere, die er empfindet, ein Weg zu begreifen, wer er ist. Manche gehen in die Lehre um erwachsen zu werden, andere in die Leere.

Und in welche Lehre/Leere gehst du jetzt? Schreiben oder Musik Machen, Entertainen oder alles zusammen?

Das Schreiben war zunächst eine Zugabe, aber das Leben hat sich durch mich hindurch gegen die Musik und wohl fürs Schreiben entschieden. Das jüngste Album, das ich mit der Band Little Machine einspielte, könnte mein letztes sein. Denn man zahlt da nur noch drauf. Eine gut produzierte Indie-Platte kostet läppische 6.000 Euro, aber die spielst du damit nie und nimmer mehr ein. Ich weiß nicht, welche Sauereien der liebe Gott mit mir noch vor hat, es verändert sich gerade so viel in der Welt und einem selbst. Was ein guter Zustand für Kunst ist. Gute Kunst wächst auf dem Acker der Verheerung und Kaputtheit, das war schon immer so. Vielleicht manage ich weiter den Hamburger Golden Pudel Club, aber eigentlich hätte ich lieber eine Fahrradwerkstatt. Etwas gegen all die verblasenen Begriffe des Business: „Unterhaltung“ zum Beispiel – ich wünsche mir das Ende der Unterhaltung.

Am 21. September liest Rocko Schamoni im Metro-Kino aus „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“.

Sonntag, 15. April 2007

Hier kommt „Flock’n’Roll“!

Die Flowerpornoes kamen nach elf Jahren zurück in die Hansastraße 48.

Kiel – Die OP-Anzüge, in denen die Flowerpornoes eigentlich auftreten wollten, sind auf dem Postweg zur „Beflockung“ leider verschütt’ gegangen, Keyboarderin Birgit Quentmeier ist zum Start der Reunion-Tour nach elf Jahren in der Hansastraße 48 leider verhindert und auch die neue CD hat Tom Liwa leider vergessen mitzubringen.

Egal, „Hier kommt Rock’n’Roll“ – auch mit Stuhl statt Bernsteinkette an Liwas Hals, mit „nur“ Markus Steinbach am die Riff-Verlockungen sicher umschiffenden Bass und Stefan Küpper auf Drums, die auf Drive verzichten können, weil sie ihn haben. Und „mit ohne“ CDs, denn auf sowas wie Pop-Bizz und Promo haben die Flowerpornoes eh immer ihr eigenes Lied gepfiffen. Rock’n’Roll? Vielleicht eher „Flock’n’Roll“, welches Wortspiel in der intim besuchten Hansastraße die Runde macht und treffsicher wie Liwas Verse („Wir hatten Glück in der Liebe und Spiel im Pech“) das beschreibt, was er Anfang der 90er neu erfand und was geschätzte drei Generationen von nachfolgenden Bands als Duisburger Ur-Meter geeicht hat: Rock’n’Roll mit dem Bohème-Faktor Poesie, die Selbstinszenierung gegen sich selbst im Text – mit psychoanalytischer Präzision.

Von Liwas Solo-Auftritten ist man dieses doppelbödige Spiel mit dem Spiel von „Jungs mit Ego-Problemen“, das Rock’n’Roll ja immer auch ist, gewohnt. Mancher meinte, den zwischen den Songs Heilwasser (wohlgemerkt: nicht Weihwasser) trinkenden Liwa in die Esoterik abdriften zu sehen. Gleichwohl, Liwas Geheimbund war immer der mit dem Text, der so paradoxe Fragen stellt wie „Ist es die Erdkraft, die mich nach oben treibt, oder zieht mich die Sonne zum Licht?“ Anziehungs- und Abstoßungskräfte, Liebe, Leben, Dichten – von Glaube, Liebe, Hoffnung nicht zu schweigen – versus deren Einsamkeit auf dem deutschsprachigen Rock’n’Roll-Olymp. Dabei sich so schratig zu inszenieren wie Liwa, der sich in der „doom-mäßig langsamen“ Zugabe wie in einer Persiflage des finalen Gitarren Zerdepperns mit selbiger am Boden wälzt und sich mit seinen Trio-Partnern eine Sofakissenschlacht liefert, darf man als das selbe poetische Programm lesen, mit dem die Flowerpornoes-Reunion-CD titelt: „Wie oft musst du vor die Wand laufen, bis der Himmel sich auftut?“

Wo Bob Dylan, dem Liwa nicht unverwandt ist, vorsichtig „on Heaven’s Door knockte“, gehen die Flowerpornoes mit dem Kopf durch die Wand ins Himmelreich ein. Auch musikalisch: Melodiös ohrwürmig-poppige Nummern wie „Österreich“ osmotisieren durch ihre Zellwand ebenso ins Balladenhafte wie in punkige Gitarrenrückkopplungsorgien. Eine Blut-Hirn-Schranke gibt es nicht. Mitten im zuweilen intellektuell verdröselten Wortgemetze pumpt das lebendige Herz. Liwa singt: „Manchmal wünsch’ ich mir, ich hätt’ ein Herz aus Stein. Ich versuch’s, aber es ist völlig unmöglich der Liebe zu entkommen.“ Yeah! That’s „Flock’n’Roll“!

Flowerpornoes bei MySpace

Mittwoch, 28. März 2007

Kieler Literaturtelefon ab April privat organisiert

(Dokumentiert: Pressemitteilung der Landeshauptstadt Kiel, 28.3.2007)

Wachwechsel am Kieler Literaturtelefon: Bislang war die Stadt für die wöchentliche Lesung am Telefonhörer verantwortlich, von April an organisieren drei Kieler Autoren den Ansageservice. Die Telefonnummer (0431) 901-1156 bleibt erhalten, dazu erobert das Kieler Literaturtelefon nun auch das Internet.

Mitte der 70er Jahre stieß der Kieler Literatur-Student Michael Augustin in London auf eine Zeitungsanzeige: „Dial a poem – Ruf ein Gedicht an!“ Diese Idee begeisterte den jungen Autor so sehr, dass er nach seiner Rückkehr gemeinsam mit dem damaligen Kulturdezernenten Dieter Opper ein ähnliches Projekt ins Leben rief: das Kieler Literaturtelefon, das erste in Deutschland.

„Technisch war das damals natürlich noch nicht so ausgereift, die Texte wurden einfach auf einen Anrufbeantworter gesprochen“, erinnert sich Augustin, von dem der allererste Beitrag für das Kieler Literaturtelefon im März 1978 stammte. Später traf er auch den Gründer des weltweit ersten Literaturtelefons in den USA, John Giorno, der zum Kreis um Andy Warhol gehörte.

Kiel war somit vor 29 Jahren die erste deutsche Stadt, die dieses kulturelle Angebot für Literaturinteressierte installierte. Viele Städte folgten, die meisten gaben aber spätestens dann auf, als die Telekom die Literaturtelefone aus ihrem Ansageprogramm heraus nahm, weil diese nicht genügend Geld einbrachten. Die Landeshauptstadt Kiel wollte dieses Kulturprogramm per Telefon jedoch erhalten. Seit Oktober 2001 betrieb das Kulturamt (heute: Amt für Kultur und Weiterbildung) deshalb das Literaturtelefon in Eigeninitiative. Die Ziele des Literaturtelefons damals wie heute: Förderung von Autorinnen und Autoren durch Bekanntmachen ihrer Bücher, Förderung des Lesens durch Schaffen von Leseanreizen.

Das Literaturtelefon bot und bietet ganz private Autorenlesungen, gemütlich auf der eigenen Couch zu Hause, auf der Bank im Park oder sogar in der Badewanne. Nachwuchsautoren stellen sich einem größeren Publikum vor, bekannte Schriftsteller präsentieren ihre neuesten Werke. Fast alle lebenden deutschsprachigen Autoren von Rang und Namen haben dem Kieler Literaturtelefon schon ihre Stimme geliehen, darunter Günter Grass, Siegfried Lenz, Peter Härtling, Sarah Kirsch und Hans-Jürgen Heise.

Bislang bot das erste – und mittlerweile eines der letzten – deutschsprachige Literaturtelefon bei Anruf Wort. Im wöchentlichen Wechsel konnten Anrufer Ausschnitte aus Romanen, Kurzgeschichten und Gedichte hören. Die Aufnahmen waren jeweils etwa fünf Minuten lang und konnten rund um die Uhr abgehört werden, für Kielerinnen und Kieler zum Ortstarif.

16 Jahre lang wurde das Literaturtelefon von Kulturamt-Mitarbeiterin Angelika Stargardt betreut. In der letzten Aufnahme unter ihrer Regie ist in dieser Woche der bekannte Kieler Schriftsteller Feridun Zaimoglu zu hören. Mit dem 1. April endet die Ära des Literaturtelefons als städtische Einrichtung.

Nun wird das altmodische Telefon nicht etwa gekappt, sondern durch ein neues Medium ergänzt, denn heutzutage tummelt sich die gesprochene Literatur im Internet. Kulturdezernent Gert Meyer will die Literatur weiterhin fördern und möglichst neue Hörer- und Leserkreise ansprechen. So übergibt die Stadt das Literaturtelefon in private Hände, sorgt aber nach wie vor für die Finanzierung und den städtischen Telefonanschluss.

War das Kieler Literaturtelefon 1978 das erste am Telefonhörer, so ist es 2007 eines der ersten im Internet. Dafür sorgen drei Kieler Literaturinteressierte: Die Autoren und Literatur-Event-Veranstalter Björn Högsdal und Patrick Kruse, die unter dem Label assembleART.com firmieren und die unter anderem das Format Poetry Slam in Kiel und darüber hinaus etabliert haben, sowie der Kieler Journalist, Autor und Literatur-Podcaster Jörg Meyer treten als Triumvirat an. Sie wollen das Literaturtelefon in eine neue multimediale und global vernetzte Zukunft führen.

Über die Möglichkeiten des Internets wollen die drei vor allem junge Hörerschaften für das gesprochene Wort gewinnen – jene, die über die zwei Kupferdrähte der Telekom nicht nur telefonieren, sondern sich weltweit ins Netz klicken. Dabei sollen diejenigen, die sich nach wie vor über Dichtung am Telefon freuen, nicht vergessen werden. Vom 2. April an wird das Kieler Literaturtelefon also wie gewohnt unter der Rufnummer (0431) 901-1156, zusätzlich aber auch im Internet unter www.literaturtelefon-online.de erreichbar sein – allerdings wechseln die Beiträge nicht mehr im wöchentlichen, sondern im 14-täglichen Rhythmus.

Das neue Literaturtelefon-Trio bietet für das gleiche Geld (rund 3.000 Euro pro Jahr für Autoren-Honorare und laufende Kosten) eine weltweite Erreichbarkeit der Lesungen des Kieler Literaturtelefons – nebst Vernetzung mit der Web 2.0-Gemeinde und einem Archiv, in dem die Lesungen der Vergangenheit auch über den Telefon-Auftritt hinaus hörbar bleiben.

Kulturdezernent Gert Meyer (links) übergibt symbolisch das Literaturtelefon an (v.l.n.r.) Patrick Kruse, Björn Högsdal, Jörg Meyer und Falk Tennstedt (Webdesign) (Foto: Günter Hoppe, 28.3.2007)


Seit das Internet nicht mehr nur ein Empfangs-Medium ist, sondern jeden Empfänger zum potenziellen Sender macht (Myspace.com und Youtube.com sind dafür nur einige der vielen Beispiele), ist es das universelle Medium für das urdemokratische „Jeder kann ein Sender sein“. Die entsprechenden Portale boomen, podster.de etwa listet täglich mehrere Dutzend neue Sender. Das Internet wird das Telefon als Medium der Sprach-Verbreitung ablösen.

Literatur war per Telefon erstmals 1978 „on line“, jetzt wird sie es via Internet noch mehr, nämlich weltumspannend. Und in nicht ganz ferner Zukunft wird man die Autorinnen und Autoren am Kieler Literaturtelefon nicht nur hören, sondern auch sehen können. An Video-Podcasts arbeiten die neuen Betreiber des Literaturtelefons noch. Sie wollen Literatur noch lebendiger, noch erlebbarer machen.

Das Literaturtelefon ist tot? Nein: Es lebe das Literaturtelefon!

www.literaturtelefon-online.de

Freitag, 23. Februar 2007

„Großartig für die Kleinen“

Die Blogger MC Winkel und Herr Paulsen in der LeseLounge.

Kiel – Nachts nach der LeseLounge noch mal fix auf www.whudat.de geklickt, könnte ja sein, dass der Kieler MC Winkel da schon gebloggt hat, wie sein Auftritt im Literaturhaus war. Weblogs oder kurz Blogs sind vor allem eines: schnell! Zur Authentizität der Selbststilisierung zur medialen Person gehört, dass das Internet-Logbuch ganz nah dran am gerade Erlebten ist. Zumal MC Winkel seinen und des Blog-Kollegen Herrn Paulsens Sofasitzung mitfilmt – Futter für sein nächstes „YouTube“-Video auf whudat.de.

Aber nein, noch nichts da. Wahrscheinlich nutzt Winkel nicht in der „Bloggosphäre“, sondern im „wirklichen“ Leben noch seine „Bier-Flatrate“. Bei täglich einigen tausend Klicks auf seinen Blog und damit unter den ersten Zehn der Blog-Charts wurden die Werber aufmerksam. Weil Winkel „überall im Blog das Wort ’Bier’ durch mein Lieblingsgetränk ’Holsten’ ersetzt“ hat, honorieren die Brauer den Blogger mit entsprechenden „Naturalien“. Ein Kollateralnutzen einer Kultur, die das Internet als Textabwurfstelle für die tägliche bis stündliche Mitteilungswut entdeckt hat. Und hunderte bis tausende Leser täglich findet – weit mehr als mancher Jungautor mit seinem Debut zwischen traditionellen Buchdeckeln in einem ganzen Jahr.

„Blogs sind großartig für die Kleinen“, weiß daher auch Stevan Paul, der unter der Web-Adresse http://antsinp.antville.org nicht nur den Blog „Dem Herr Paulsen sein Kiosk“ betreibt, sondern mit der „redereihamburg“ und den „Kaffee.Satz.Lesungen“ (samt Anthologien als Buch) den literarischen Nachwuchs vernetzt. Blogs seien die perfekte Spielwiese, „um Texte auszuprobieren“, und vor allem für die „kleine Form“ wie Kurzgeschichte oder Lyrik, den Einstieg für manches Talent in den Literaturbetrieb abseits der Verlage, die „nur Romane drucken“. Literarische Blogger finden oft spontanes Echo auf ihre Texte im weltweiten Netz, werden zu Lesungen eingeladen und manchmal mir nichts dir nichts zu Stars in der Netz-Manege.

Doch ist all das Raunen im Blog-Rummel auch Literatur? Bei Paul in jedem Fall, wie seine in der LeseLounge vorgetragenen „kulinarischen“ Kurzgeschichten zeigen. MC Winkel dagegen sieht sich selbst nicht als Literat, eher „Selbstdarsteller mit einer literarischen Ader“. Zwei unterschiedliche Formen, Blogs zu nutzen, wie der Kieler Medienwissenschaftler Prof. Dr. Jan-Oliver Decker weiß: „Die einen (wie Paul) nutzen den Blog als neue Verbreitungsmöglichkeit für ihre Texte, die anderen zur Medialisierung ihrer Person.“ Letzteres inszeniert MC Winkel multimedial. Er nutzt die neuen Möglichkeiten des „Web 2.0“, sich in unterschiedlichsten Formaten zu äußern, exzessiv und wird dabei zum MC jenseits des Mathias Winks’ mit ganz bürgerlichem Beruf. „Das Persönliche verlagert sich ins Mediale“, sagt Decker, „wird zur Idealisierung des kulturellen Normalfalls“. Und warum ist der für so erstaunlich viele Mitleser von Blogs so interessant? Weil Globalisierung und neue Techniken eben diese Normalität gefährdet erscheinen lassen – und so im Netz geradezu romantisch zum Personenkult machen.

Sonntag, 26. November 2006

Strategien gegen den abgeklärten Blick

Das Symposion „Gegenbilder“ ging in der Kunsthalle dem Bildbegriff kritisch auf den Grund.

Kiel – In einer ihrer 62 Fotoarbeiten, die Katharina Sieverding im 20 Sekunden-Rhythmus projiziert, hat sie ein Bild des Stelenfeldes der Berliner Holocaust-Gedenkstätte mit einem Übersichtsplan des KZ Sachsenhausen überblendet. Ist solche frappante geometrische Ähnlichkeit ein Gegenbild? Wenn ja, „gegen“ was? Was ist hier das „vor Ähnlichkeit Entstellte“ (Walter Benjamin)? Ist am Ende sogar die Vortragsform, die eigenen Arbeiten als Bilderflut zu präsentieren, bei der nur Zeit für einen flüchtigen Blick bleibt, so ein mehrfach gebrochenes, „widerständiges“ Gegenbild?

Fragen, denen am Wochenende in der Kunsthalle das vom Forum der Muthesius Kunsthochschule veranstaltete Symposion „Gegenbilder – Zu abweichenden Strategien der Kriegsdarstellung“ nachging. Eines gleich vorweg: Das Gegenbild und wie man es machen könnte wurde nicht gefunden, für Gastgeberin und Forumsintendantin Petra Maria Meyer „bleibt es ein Suchbegriff“. Auch weil die Frage nach dem Gegenbild, nach Strategien gegen die nachrichtlichen Bilderfluten aus Krisengebieten, immer eine Frage nach dem Bild selbst ist, was es ist, was es kann und was nicht. Spätestens seit den Bildern des 11. Septembers 2001 besteht in der Bilderwissenschaft eine gründliche Skepsis gegenüber dem Bild, vor allem gegenüber dessen Anspruch, ein authentisches Abbild der Realität zu geben, der seine Macht begründet. Aber noch tiefer lässt sich der Zweifel am Bild ansiedeln, wie Hubertus von Amelunxen, Direktor der „Ecole européenne supérieure de l’image“ in Poitiers, in der Podiumsdiskussion zu denken gibt. „Ist nicht jedes Bild schon ein Gegenbild, weil zwischen ihm und dem Abgebildeten schon durch den Vorgang des Abbildens eine Differenz herrscht?“ Und umgekehrt: Falle nicht jedes Gegenbild, weil es eben auch ein Bild sei, dem gesellschaftlichen Vernutzungsprozess anheim? Müsse eine Gegenbildstrategie nicht vielmehr an den Distributions- und Nutzungszusammenhängen von Bildern ansetzen, statt am Ikonografischen selbst?

Dass ein Bild nicht losgelöst Information vermittelt oder darstellt, sondern immer in einem Kontext von Produktion und Wahrnehmung steht, scheint, so zeigte das Symposion, ein möglicher Schlüssel zu „widerständigen Strategien der Intervention gegen den abgeklärten Blick“ (Meyer). Der Berliner Kurator Frank Wagner machte dies am Beispiel von Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ deutlich. Darin werde das Herrschaftsbild des Pergamon-Altars in einen anderen Kontext gestellt und werde dadurch vom Bild zum Gegenbild. Auch der Wiener Medienphilosoph Hans-Dieter Bahr sieht Gegenbildnerschaft „in der Darstellungsweise, nicht im Sujet, das dem Bann des Vorbilds und Nachahmens verhaftet bleibt“. Sehen werde heute als passive Reaktion gedeutet, anders als in der Antike, wo Sehen als aktiver Akt galt, als „Blick“ und „Einsicht“. Dem „totalitären Anspruch“ des Bildes als bloßem Abbild müsse man begegnen, indem „man den Zweifel am Bild dem Bild selbst einbeschreibt“, so Peter Hendricks, Fotografie-Professor an der Muthesius Kunsthochschule.

Was so theoretisch diskutiert wurde, findet sich zum Teil in Katharina Sieverdings „Denkbildern“ als Praxis wieder. Sie „entstellt die Bilder zur Kenntlichkeit“, indem sie sie aus ihren Macht ausübenden Kontexten löst und durch Kollisionsmontagen neue, widerständige Kontexte herstellt. Besonders interessant sind dabei ihre „Steigbilder“, weil sie in diesen weniger gesellschaftliche Missstände anprangert, wie das schon John Heartfield tat, als vielmehr die Frage nach dem „sich ein Bild Machen“ selbst stellt. Ging das Symposion von Kriegsbildern als brisantem Spezialfall der Bild-Gegenbild-Problematik aus, zeigt Sieverding, dass auch die bildgebenden Verfahren der Medizin gezeichnet sind von einem technokratisch „abgeklärten“ Positivismus, der das Bild über das Abgebildete, hier den Patienten als Mensch stellt.

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