d.day - keine nacht für niemand

Sonntag, 14. März 2010

Sa, 13.3.10 (So, 14.3.10, 2:28): weiße Kaninchen und Schmetterlinge

Nachts gestern noch Netzstudien übers Surreale und die Fantasie der Weltenwechsel. Lewis Carroll, welche Recherche ich noch vertiefen werde. The White Rabbit, der Traum(deutungs)führer. Mit "The Butterfly Effect" ein weiterer stilsicherer Griff Lillys in die Filmkisten der Videothek um die Ecke. Wenn man den Lauf der Dinge nachträglich verändern könnte. Philosophisch komplexes Problem. Darin der dann doch tröstliche Satz: "Man kann einen Menschen nicht verändern, ohne zu zerstören, was er war."

Nachmittags 70er-Grusel mit "The Fog - Nebel des Grauens" und dann nochmal tief ins Surreal-Beängstigende in "The Ring". Gegens Gruseln aneinander gekuschelt.

Nachts noch raus, streunen durch Keller und entlang von unbewohnten oder nur teilbewohnten Häuserresten in der Umgebung. Hinterhöfe und Abenteuerlust. In Verschläge leuchten. Lillys Freude daran. Ich kleinbürgerlich vorsichtig. Nur eine knappe Stunde des Tages, aber seltsam voll vom Tag.

Zum di.gi.arium in diesen Tagen: Es scheint ob der Kürze der Einträge, dass nur wenig geschieht. Dabei sind es aber nur eilige Telegramme, Skizzen, die nach gedanklichem und gefühlsbeobachtendem Ausbau verlangen. Ich komme kaum noch hinterher, alles aufzuschreiben. Notizbuch muss wieder stets am Mann sein. Oder auch nicht: Die Erinnerung als Rekorder, dem hier nur das Laufwerk - und eine leere, lediglich krakelig beschriftete Leerkassette einbeschrieben wird.

Denken als Anlage von Dateibäumen. Unter deren Knospen schläft es sich ebenso unruhig wie erholsam in der Schreibträumliebeskajüte.

Fr, 12.3.10 (So, 14.3.10, 1:58): Tanzveranstaltung

Ein halbes Jahr l&ö. Die Baumrinden winterschlafen noch zu fest, als dass man es dahin ritzen könnte. Stattdessen gehen wir zur Feier dieser halbdutzend Monate tanzen. Depeche Mode Party. Wir tanzen jedoch nicht, da zu wenig getanzt wird. Wir umtanzen die Worte. Und die Ängste, dass so viel vorbei war in diesem halben Jahr. Zeiten des Umbruchs. Zeiten des aus den Zeiten Fallens. Die Leichtfüßigkeit unserer Gedankenschwere. Das Glück, sie zu teilen. Dass es sich fügte, geschah.



Draußen rauchend im Nachtnebel. Die Friedfertigkeit des Seins. Existenzielles Empfinden, wenn nicht existenzialistisch. Ein Geworfensein ineinander, innig. Wir trinken Mischungen und die ein oder andere Träne, die wir uns zuküssen, draußen im Nebel, drinnen im Nebel.

Auf dem Heimweg erzählen wir uns Filme hinter den Leinwänden. Das linnene Sinnen. Die Flecken auf unseren weißen Häuten, Stillleben des Blühenden, wissend um das Strohblumige des Herbstes namens Leben und Lieben. Frühlingsgefühl im noch winterkühlen Nachtdunst. Die Umarmungen, die Blicke. Das Gewisssein im Wissen seiner Gefährdung durch das Denken.

Und dass es für all das all der vielen und der nur wenigen Worte bedarf. Wir lieben uns in Worten und durch Worte. Wir lieben, dass wir uns benennen und bei unserer Namen rufen können. Der zarte Klang dabei. Der Tanz und die Geständnisse.

Freitag, 12. März 2010

Do, 11.3.10 (Fr, 12.3.10, 2:39): Auf der Suche nach Adorno



Es gibt keine richtige Tür im falschen Flur. Diese aufgenommen im Seitengang einer Kaufpassage. Sie scheint nirgendwohin zu führen. Oder überall hin. Vernetzte Katakomben. Melancholischer Eindruck mit Auslöser. Festgehalten in seinem Fluchtgedanken. Im Buchladen, um Horkheimer/Adorno: "Dialektik der Aufklärung" zu kaufen. Nicht vorhanden, nur Hegel und Kant. Verschlossene Tür. Dann im Netz gefunden, als PDF.

Guter Ersatz für abendliche Theoriestunde ist dagegen die ironisierte Praxis der Kulturindustrie: Tim Burtons "Charlie und die Schokoladenfabrik". Lilly und ich sind hoch amüsiert (und auch gerührt und nicht geschüttelt) von dieser Überdrehung der Trickkiste. Ein schrilles Kleinod im Mainstream.

Feinsinniges Erleben mit ihr, Seite an Seite, die Saiten gleich gestimmt, sie an meinen Stimmwirbeln. Ihre sicheren Griffe in die Filmkiste.

Campinggefühl in unserem Heimkino auf Laptop-Leinwand und Matratzensessel.

Liegestühle, wartend auf den ersten Frühling. Zauberhaft unaufgeräumt. Als gäbe es, fällt man stunden- oder tageweise gemeinsam aus dem Leben, doch das richtige im falschen.

Donnerstag, 11. März 2010

Mi, 10.3.10 (Do, 11.3.10, 4:01): Matratzenparadies

Tag im Zimmer, ab spätnachmittags auf zwei neuen Matratzen. Wie man sich bettet, so lie[g/b]t man jetzt besser. Wir schauen Filme und Dokus. Unter anderem die zweite Folge der Doku-Serie "was war links?". Gedanken und Diskussionen dazu:

Die Revolution frisst nicht ihre Kinder, sondern ihre Väter. Vatermord an Adorno. Die Tragik der Theoriebildung. Dass es Adorno nicht um Praxisbezug ging, sondern um Analyse des in den herrschenden Verhältnissen "beschädigten Lebens". Der immer noch wahre Satz: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Entsprechend kann es nur eine falsche, das heißt nicht zur richtigen Theorie passende Praxis geben. Und umgekehrt. Vielleicht ist das einer der Gründe für das partielle Scheitern dieser Revolution, die uns jetzt als beinahe nostalgische Folie dient.

Gang durch die leicht vorstädtischen Straßen von G., die für mich immer noch die DDR ("mein Vaterland") erkennen lassen, wenn auch in nur kleinsten atmosphärischen Details. Vielleicht auch daher das hiesige Heimat- oder Zuhausegefühl.

Schreibe spät nachts in meinem Kabuff. Lilly schläft schon. Selbst hier ein Gefühl von inniger Zimmrigkeit.

Di, 9.3.10 (Do, 11.3.10, 3:44): Reise nach G.

Spätnachmittags in das Meditationsgefährt Zug nach G. zu Lilly gestiegen. Hinausschauen in die ergraute, mit der Dämmerung sich schwärzende Landschaft. Zugfahrten haben etwas Melancholisches. Und etwas von Zwischenraum, aus der Zeit Fallen. Trotz all der Wegmarken draußen bleiben nur die Zeitpunkte und Gleiswechsel beim viermaligen Umsteigen als Anhaltspunkte (im Wortsinne).

Schaue auf dem Laptop "Lindenstraße"-Folgen von vor 23 Jahren. Zeitreise im Metaebenenraum, fremde Welten.

Und doch vertraut. Ankunft in G. und gleich heimisch gefühlt. Zu Lilly kommen ist wie heimkommen, egal an welchem Ort.

In ihrem Zimmer zwischen all den Sachen, vor allem Büchern, angenehmstes Ankommen. Gemütlich entfernt vom Kieler Alltag, der sich während ihrer Abwesenheit schon wieder eingeschlichen hatte.

Das di.gi.arium ist darob auch die nächsten Tage eher nachgetragenes.

Immer noch ertaubendes Rauschen im gluckernden rechten Ohr.

Dienstag, 9. März 2010

Mo, 8.3.10 (Di, 9.3.10, 0:04): dichte Opern

Das Gedicht tendiert in Fragmenten mal wieder zum ganz großen, gesamtkunstwerkenden Entwurf. Oper, einsilbige Operettensoldaten. Etwa so:

schlafend aufgewacht
fehlst du mir,
nachbarin nebenan.
wachend entschlummert
bist du da,
näherin meines traumgarns.

vergessen wir die zeiten,
vergessen wir sie nicht,
nur uns, wenn wir reden
wie eben und lieben
wie uns vergeben
die träume aus licht.

und wirst du, liebste,
mich auch noch herzen,
wenn den werken das erz
ausgeht, wenn ...


Fragment, unvollendet, unbeantwortet wie dies:

frühere sommer ...

sonnenbleich fiel man in die betten,
zerschlief besucherritzen

...

die nächte waren samt
und sternenklar, noch nicht,
noch lange fern dies heute
durch sie irren.


Was soll uns das sagen? Vor allem, was will es?

Und dies:

Kinkerlitzen: Er, ein blond Gebräunter, für den Mode wie Bermuda-Shorts erfunden wurden, dem Turnhosen stehen und das Schnalzen der Flipflops auf dem Kopfsteinpflaster einen eher nicht zufälligen Rhythmus ergibt. Sie, Mitte bis Ende 20, der man jetzt schon ansieht, dass ihr die Verdoppelung dieser Lebensspanne nicht viel anhaben wird - dergestalt, dass da immer so etwas backfischig gut gepolstertes Mädchenhaftes bleiben wird, auch halbjahrhundert, was natürlich ein bisschen erschauern lässt, weil sich nichts nur wenig ändern sollte. Hinter ihnen, mühsam Schritt haltend hinter der Strandgepäcksammlung, ein rachitisches Hündchen, das man Köter heißen müsste, wenn es denn etwas dafür könnte, wie Menschen ein Tier nennen. Alle drei scheinen zu wissen, was sie sind. Sie stellen nichts dar, man stellt sie nur dar, und man sieht ihnen an, dass sie nicht so ausschauen möchten wie ich, das aber aus Höflichkeit der Welt gegenüber, mit der sie ganz gut klar kommen, nicht mal im Zweisamen sagen würden, sondern es lieber als einsamen Gedanken, vor dem ihnen ein bisschen graust, in die jetzt runtergebrochene Nacht senden. Eine peinliche Berührtheit meiner- wie ihrerseits, die sich vergeblich an so etwas Abstraktem wie Menschenkenntnis oder dass man die haben sollte, festhalten, indem sie sie loslassen. In diesem Moment, auf der Straße vor dem Straßencafé mit den elektrischen Jahrmarktlampions, das Köterchen, seltsam gebrechlich gehetzt, hinterdrein.

Derweil dazu schon wieder eine Operetten-Film-Fantasie-Idee: Doku vom Bau des Opernhauses in Sydney verschmitzt verschnitten mit Szenen aus "Fitzcarraldo", wo Klaus Kinski als Fitzcarraldo keine Mühen scheut, um in Manaus, im tiefsten amazonischen Dschungel, ein Opernhaus zu bauen. Caruso calling!



Das in halbgeviertel(sch)achteltem Traum, gedichtet, komponiert, große kleine Oper.

Szenenwechsel ...

Montag, 8. März 2010

So, 7.3.10 (Mo, 8.3.10, 4:01): "der kampf geht weiter!"

einze[i/l]lig, aber nicht
einsilbig:
was bleibt, ist
unbeirrt.

(epitaph für rudi dutschke zum 70.)

Sonntag, 7. März 2010

Sa, 6.3.10 (So, 7.3.10, 5:50): Beats und Bratwurst

Wiederum verspätet die Zeit und ihren schneienden (und scheidenden), dann wieder schmelzenden Verlauf wenn nicht einholend, dann überholend, bin ich mit Foto-Kollege Bevis in der Nacht der Clubs zum Start des Kultur-Rauschs unterwegs.

In der Endstation Halle400 rege ich mich darüber auf, dass immer noch und immer wieder der Mainstream den House verstümmelt. Liegt daran, dass ich derlei in der metamorphen Form Goa in den frühen 90ern komplett verdrogt erlebte und (nach)ersann. Jetzt aber bin ich zu nüchtern, als in den Party-Girlies nicht bloß von ihnen selbst inszenierte Sexabziehbilder zu sehen. Eigentlich ja gut, dass ich mich nicht umgarnen lasse, zumal das Lilly "live und in Farbe" besser kann, besser, weil geistiger, also körperseelisch vermittelter. Kurzum: poetischer. Die dummstrohpüppienden Chicks nerven einfach mit ihren Handys. Kommt das hier rüber, in dieser Textbratwurst?

--- snip! ---

Bühnen, Beats und eine Bratwurst

Auf Tour durch die Nacht der Clubs zum Auftakt des Kultur-Rauschs.

Kiel - Wie vielfältig die Kieler Club-Landschaft ist, will der Kultur-Rausch alljährlich zeigen, und demonstriert all die Kontraste und Gemeinsamkeiten "guter Nachbarschaft", unter welchem Motto seine zwölfte Ausgabe einen Monat lang steht, gleich zu Beginn in der Nacht der Clubs.

Geradezu ein Sinnbild für kontrastreich gute Nachbarschaft erleben wir am Ende unserer Tour an und in der Halle400. Innen ist auch um Mitternacht die Tanzfläche mehr von psychedelischen Lichtspielen der Latenite Extravaganza House als von Tanzbeinen erfüllt. DJ Francesco Diaz aus dem Hamburger Upper East wirkt mit seinen poppig weichgespülten House-Beats noch recht extravagant, um nicht zu sagen deplatziert. Überhaupt mag man über solche allzu mainstreamige Art des House streiten. Doch soeben hat der Shuttle-Bus eine neue Ladung zumindest der Kostümierung nach tanzwütiger Party-Girlies angekarrt, die den Anfang machen, obwohl manches noch mehr mit dem Handy als den Highheels herumwirbelt. Es wird noch telefoniert und gesimst, ob in der Bergstraße "eventuell mehr geht". Draußen erwärmt man sich derweil an einer zünftigen Bratwurst vom Schwenkgrill, ein würzigerer Geschmackskontrast mit einem Hauch von Kieler-Woche-Rau(s)ch.

Weder von Kultur, noch von Rausch ist hier also viel zu spüren, wobei wir mal zugute halten wollen, dass es dem Kultur-Rausch auch um die Erweiterung des Kulturbegriffs geht. Insofern: Biedere Lightshow-Extravaganz und Würstchen, das passt schon. Es geht aber auch anders. Wie im KulturForum und benachbartem STATT-Café, die schon um 20 Uhr rappelvoll sind und wo sich A cappella-Grooves und solche der funkig-jazzigen Art die Bühnenklinke in die Hand geben. Das Funk Kombinat Kiel mixt den gehaltvollen Aperitif und lässt hören, wo im Jazz der Hammer hängt, genauer: die Hammondorgel, und der gitarreske Funke mit einem Schuss Santana aus dem soliden Amboss von Perkussion und Bass geschlagen wird. Derlei Grooves kann man auch nur mit dem Mund machen. Die fünf Jungs von High Five beweisen es vor übervollem Haus im KulturForum. A cappella-Gesang, der viel mit Mundschlagzeug und satten Beats arbeitet - und mit gewitzten Texten etwa über die Eigensinnigkeiten von Frauen im Kaufrausch. "Wie Pech und Schwefel" vereinigen sich die fünf kontrastierenden Stimmen zu einem auch kabarettistisch hochexplosiven Gemisch, das ebenso die gute Nachbarschaft der Close Harmony perfekt beherrscht.

Um die Grooves der Stimme(n) geht es auch im Blauen Engel. Joy Smith beweist dort, dass selbst eine jugendliche Stimme schon wie die einer weisen Soul-Lady klingen kann. Von Joys angekündigter Heiserkeit ist dabei kaum etwas zu spüren, es sei denn, man interpretierte sie treffend um in einen Soul-Sound, der gecoverten Songs wie Alicia Keys' "If I Got You" das Feuerwasser reichen kann. Begleitet unter anderem von ihrem Vater Mark Smith an Keyboard und einer funkigen Gitarre probiert sich Joy längst nicht mehr nur aus. Ebenso elegant wie versiert schnurrt sie durch die Register ihrer ungewöhnlich vielschichtigen Stimme zwischen engelhaften Höhen und "schwarzen" Tiefen.

Joy Smith hat den Soul und R'n'B mit Löffeln gefressen, die Band The Beat Goes On den rock'n'rollenden "Sound der Sixties". Die sechs älteren Herren geben davon in der Hansa48 so manche gereifte und gut abgehangene Kostprobe auf der "Route 66" in alte Zeiten, die wieder ganz und gar modern sind, weil sie nie alterten und altern werden. Manches bleibt einfach immer jung, wovon man sich auch im Luna überzeugen kann. Dort erweist sich das Hamburger Quartett Herrenmagazin als gelehriger Schüler der Hamburger Schule, die in den frühen 90ern den deutschsprachigen Rock neu definierte. Die Band in klassischer Besetzung, zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug, hat "auf einer unsichtbaren Reise dasselbe Ziel": Nämlich Punk und Rock'n'Roll in kontrastierend gute Nachbarschaft zu bringen. Herrenmagazins Songs brauchen dabei selten mehr als zwei Minuten, um ihr Centerfold klar und bündig aufzuklappen. Feine Sache, das. Trotz Sound-Problemen nach fliegendem Wechsel eines defekten Gitarrenverstärkers.

Dass ein paar Schritte durch den erneuten Neuschnee weiter, in der Schaubude, die Band Supermutant Herrenmagazin als "unser Support" bezeichnet, ist wohl etwas hoch gegriffen. Dennoch weht durch Supermutants angepunkte Songs ein den Hamburgern nachbarschaftlich verwandter Geist: Plötzliche Rhythmus- und Stimmungswechsel, Punk allenfalls als Haltung und Folie, auf deren rutschiger Oberfläche man den deutschen Rock wieder und wiedermal neu erfinden kann. Weiter so, freut man sich - und möchte weiter so ins Weltruf, wo Captain Capa "elektronische Tanzmusik für alle bieten, die sich lieber was mit Gitarren angehört hätten". Das klingt schon dem Vernehmen nach interessant. Allerdings schlägt hier der Terminplaner kontrastreich ins Kontor. Um 21.30 Uhr, als wir das erste mal pünktlich zum angekündigten Termin im Weltruf auftauchten, spielten sie "noch lange nicht", um 23.30 Uhr sind sie leider schon "längst durch". Egal, es gibt ja noch Myspace, wo man dem Duo nachträglich lauschen kann.

Indes zeigt dieses Verpassen eine kleine Schwäche der Nacht der Clubs: Wer in nur einer Nacht durch möglichst viele der Kieler Clubkulturen rauschen möchte, ist darauf angewiesen, dass die angegebenen Anfangszeiten einigermaßen stimmen. Wenn man aber in der Piola-Bar, wo es laut Programm ab 20 Uhr schon karibisch zugehen soll, auch um 22 Uhr noch vom Türsteher auf später vertröstet wird, muss sich ein solcher Club nicht wundern, wenn er gähnend leer bleibt. Es sei denn, man könnte statt Karibik noch 'ne kontrastierende Kulturbratwurst ziehen wie vor der Halle400.

--- snap! ---

Was soll (und will) uns dazu die Bratwurst sagen? Phallussymbol, in das ich mich gerne (ab)gebissen sähe?

In der kurzen Pause vor dem Luna, wo Bevis eine Pizza-Ecke verhaftet, stehe ich (verraucht-berauscht) an der Ecke, und seine Kamera verzeichnet ein ziemlich treffendes ögyr-Bild: Intellektuell genervter Gesichtsausdruck. Zigarette natürlich. Sartre! Nietzsche? Adorno!



Wie war das nochmal gestern mit der zutiefst modernen Romantik?

Dieser Bart in meinem Gesicht! Wa(s)chbärig. Aber auch landstreichend im Wortgetüm.

Und die Wurst liegt mit ihren nur zwei Enden schwer im Gedärm. Nachts im sterilen Loft ohne nostalgisches Orangen-Uhrwerk trinke ich das konsequent weg (was auch das Ohrrauschen verstummen lässt) und habe dazu auf dem rechten Mac-Schirm das Continuo der "Haifischbar-Nacht" im NDR - all die schlagerromantische Seefahrtsromantik. Zum Weinen, also Nein-Schreien.

Im Regal schlummert noch unzusammengeklebt das Revell-Modell 1:1200 der Titanic. Genau! Wir wollen aufgehen im Untergehen. Iceberg ahead!

Fr, 5.3.10 (So, 7.3.10, 4:40): Uhrwerk-Orange

Infolge Schlafkrankheit (und von Erkältungssekret gluckerndem rechtem Innenohr) wieder mal mehr als einen ganzen Tag im Verzug im di.gi.arium und auch sonst.

Indes, die Nacht zum Arbeitstage aufheben (oder absenken) (und den darauf folgenden Tag zu übernächtigen), das konnten schon die Romantiker: Für KN beim chiffren-Konzert des NDR-Chors und Elbtonalpercussion mit Hommagen an Schumann und Mahler. Nah diesen Stimmungen, die sich da verraten, sagen wir ruhig mal wieder: kassibern. Top Secrets aus verhärmten und selbstverschütteten Seelenprotokollen (gerührt und nicht verschüttet).

Ich schreibe wie folgt darüber (nur zur Illustration hier gepostet - und auch dazu, einen Diskurs über die Modernität der Romantik einzuleiten):

--- snip! ---

Wiederentdeckte Romantik

NDR-Chor und Elbtonalpercussion beim chiffren-Konzert in der Halle400

Kiel - Die Romantik war der Moderne und damit auch der Neuen Musik lange Zeit suspekt: Zu schwärmerisch schienen den Neumusikanten, die sich unter anderem mit streng seriellen Kompositionstechniken beschäftigten, die weltschmerzenden Waldeinsamkeiten Schumanns oder auch des Spätromantikers Mahler. Dass letztere beiden in diesem Jahr einen runden Geburtstag feiern (Schumanns 200. und Mahlers 150.), nahmen der NDR-Chor unter Leitung vom Philipp Ahmann und die Schlagwerker von Elbtonalpercussion zum Anlass, im Chorschaffen der Jubiliare und jener zeitgenössischen Komponisten, die sich mit diesem intensiv auseinandersetzten, zu forschen.

Unter dem Motto "Urlicht" förderten sie dabei in der Halle400 erstaunliche Nähen zwischen der "aus der Welt gefallenen" Romantik und der Moderne zu Tage. Schumanns "Romanzen für Frauenstimmen und Klavier op. 69" vertonen zwar Gedichte unter anderem von Joseph von Eichendorff, traten aber nie aus dem Schatten der Vertonungen von Mendelssohn und Brahms. Gustav Mahler gar schrieb keine genuine Chormusik, sieht man mal von der Verwendung der Gesangsstimmen aus "Des Knaben Wunderhorn" in der 2. Sinfonie oder seinen "Liedern eines fahrenden Gesellen" ab. Letztere Kompositionen sind jedoch unbedingt chorisch gedacht, wie Clytus Gottwald in seinen Bearbeitungen für Chor a cappella von 2001 und 2009 beweist. Die Instrumentalstimmen verwebt Gottwald als die Texte vielfach brechende, raunende bis den Schmerz harmonisch zuspitzende Chorstimmen mit der eigentlichen Gesangsstimme zu einem klangflächigen Geflecht, das wie aus verborgenen Schichten des Bewusstseins und der Originalkompositionen herüberschallt.

Der NDR-Chor bedient sich dabei einer eher schlichten Gesangstechnik, die romantische Schweller und Rubati meidet, das Gefühl des "Ich bin der Welt abhanden gekommen", das Mahler wie Schumann umtrieb, aber gerade dadurch umso eindringlicher evoziert. Eine Seelenerforschung, die die Romantik als ausgesprochen modern ausweist. Wilhelm Killmayer schließt daran an, indem er in der Chorliedersammlung "... was dem Herzen kaum bewusst ..." (1995) Eichendorffs Texte noch einmal vertont, in einem Idiom, das wiederum das "Romantische" modernen Chorsatzes zeigt. Buchstäblich im Geiste Schumanns ist auch sein Stück "Schumann in Endenich" für Klavier, E-Orgel und Schlagzeug komponiert. Düster gräbt es in den Seelenqualen, die Schumann nicht nur im psychiatrischen Krankenhaus, sondern vor allem in seinen Innenwelten erlitt.

Dass Schumann das "romantische Gefühl" auch dramatisch dachte, zeigen "Mitternachtsstücke" aus seinem Tagebuch, Entwürfe zu Melodramen, die Mauricio Kagel für Chor- und Sprechstimmen und Instrumente vertonte. Sicher das "neutönendste" Stück des Abends, gleichwohl so nah an Schumanns Sinn und Sinnlichkeit, dass auch in ihm eine moderne Romantik aufscheint.

--- snap! ---

... und träume danach kongruent dieses:

In einem wuchernden Loft, in dem innovative Medienschaffende (Künstler halt ...) nicht nur völlig neuartige Produkte kreieren, sondern auch darauf pochen, dass Kreativität nur in völlig neuen Büroatmosphären und -surrounds gezüchtet werden könne. Etwa in dem Loft, wo sie die Wände bewalden mit schlingpflanzenartigen Orangen-Gewächsen. Die bringen keine prallen Früchte hervor, sondern nur Mini-Orangen, die es allerdings nicht nur aromatisch in sich haben. In jeder Frucht von Cocktail-Kirschen-Größe entfaltet sich immer noch eine Frucht. Bis zu fünf Litern Saftkonzentrat könne man aus jeder dieser orangenen Perlen gewinnen, versprechen die Künstler. In der Tat: Beißt man auf eine, explodiert eine Saftflut im Mund, bis man erbricht.

Lilly, der ich den Traum berichte, meint, derlei sei wohl sexuell zu deuten. Ich meine eher, es sei das Kern/Konfusionsprinzip der Poesie: In einem Wort steckt schon das ganze Gedicht, wenn nicht Epos.

Egal. Die Loft-Bewohner stellen noch mehr Erstaunliches aus: In weit gespreizten Beeten, beleuchtet von LEDs, züchten sie bio-digital-dynamische Disketten. Ich frage: "Wer braucht heute noch Disketten?" Sie kontern: "Wer brauchte zu Zeiten des Buchdrucks noch Papyrus?" Disketten seien eine Speicherform, die ihren Charme durch ihr Historisches, ihre Abgelebtheit, ihr Verschwundensein entwickelte. Nun gibt's also auch die Bio-Variante.

Wirkt ein bisschen wie aus Cronenbergs "Naked Lunch"-Verfilmung, wo Schreibmaschinen zu Käfern mit Mösen metamorphen. Allein, wenden die Züchter ein, auf eine Diskette passe ein halbes meiner di.gi.arien, wenn man nur das ASCII-sierte Wort nimmt. Und das war schließlich am Anfang dieses seltsamen neuerlichen Endes der EDV. Ich beiße in eine dieser Uhrwerk-Orangen und speichere diesen, genau diesen hier Sub(t)raumtext auf einer dieser bio-gedenkenden Disketten aus sündig-saftigem FLEISCH.

Freitag, 5. März 2010

Do, 4.3.10 (Do, 4.3.10, 23:50): singend gesunken

Das Thema von gestern variiert, ausgebaut im Krebsgang zum Sonett. Dazu Film aus altem Super-8-Material, das ich 1988 aufnahm. Und nochmal "Wie Wolken um die Zeiten legt", das Versfragment aus Hölderlins trunken entworteter Zeit im Tübinger Turm. Natürlich auch eine Reminiszenz an Klavki. Vertont mit einem Ausschnitt aus Gerald Eckerts "Wie Wolken um die Zeiten legt".

Die Stimmung der Saiten der Lyra heute: Lilly. Wie immer ein Vermissen. Und ein Himmelchen in Sky-pe.

--- snip! ---

singend gesunken

"wie wolken um die zeiten legt" (friedrich hölderlin)

wie wasser sich ums wort gelegt, in eis
umschlossen über lang vergang'ne zeiten
als sehnenderes kyrie eleis,
bevor es singend sank ins sich verschweigen.

die teiche schließen sich noch fest um nachen.
des hades fährmann braucht 'nen packeisbrecher.
ich rufe ihn mit meines ruders sprachen,
und freud weist ihm den weg in den versprecher.

wir streiche(l)n ihm die wortverspielten zeilen
aus seinem fahrplan des zu früh versinkens
und handeln aus verspätung, ein verweilen.

die wolken legten zeit um uns're gläser,
in denen wir des totenschiffers winken
missachteten als trunk'ne wortverweser.

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