d.day - keine nacht für niemand

Donnerstag, 4. März 2010

Mi, 3.3.10 (Do, 4.3.10, 20:35): sinkend gesungen

Trinke Fritz-Cola im Prinz Willy, die, wenn man sie mit dem Strohhalm aufsaugt, koffeinisch voll reinzimmert ins Oberstübchen.

Warten auf Singer-Songwriterin Stefanie Hempel, die von Nachtzügen singt und dem eigentümlichen Gefühl zwischen willkommenem Abschied und sehnsüchtigem Heimweh darin. Und am Rande berichtet, dass viele Nachtzuglinien mangels Frequentierung längst eingestellt sind, somit ein poetischer Ort verschwindet.

D'accord und auf der Nachtradlinie zurück nachhaus nachkoffeinisiert matt ermüdet wie folgt sinkend gesungen:

--- snip! ---

und sinke in die kissen,
in denen noch träume singen,
um neuen gesang
darin zu versenken.

keine tränenmeere mehr,
eher die stillen teiche,
wo traute, traurige nachen
heimllich im schilf verschwinden.

das haben die dommeln gesungen
im rohr, die alten songs
vom winken, von nacht
und dem mond überm see,

der silbern singt, denn
die weiden sind aus gold,
wenn sie in seinem schein
versunken schweigen.

so sank der tag in die nacht,
die vom tag sang
die schütteren lieder
unterm gesenkten haupt der himmel.

Mittwoch, 3. März 2010

Di, 2.3.10 (Mi, 3.3.10, 5:31): Traurige Clowns

Erster Tag seit Wochen ohne Lilly. Die verwaisten Räume, das wieder allein Sein. Reminiszenz an vor einem halben Jahr.

Ich räume auf, gehe den Jobs nach. Für KN abends bei Mike Krüger im Kieler Schloss. Traurige Veranstaltung. Traurig, weil ich es in all dem Spaß Machen bleibe. Hernach differenzierte Kritik, kein Verriss, sondern sich nippelnd eingemeindend:

--- snip! ---

Der Nippel passt noch durch die Lasche

Mike Krüger witzelte im Kieler Schloss zwischen Kunst und Abfall.

Kiel - Noch hat niemand eine Verpackung erfunden, die stabil ist und sich dennoch leicht öffnen lässt. Insofern ist Mike Krügers Evergreen "Sie müssen nur den Nippel durch die Lasche zieh'n" so aktuell wie vor 30 Jahren und wird nicht minder nostalgisch ausgelassen mitgesungen. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, würde Krüger im Kieler Schloss nicht davor zurückschrecken, die alte Nummer nochmal zu bringen. "Is' das Kunst oder kann das weg?" titelt sein neues Programm, das leidlich neue Nippel durch uralte Laschen zieht.

Um die Antwort auf die Frage im Titel gleich vorwegzunehmen: Ist keine Kunst, kann weg! Gleichwohl ist solche Langlebigkeit einer angejahr(zehn)ten Komikermasche und dass darüber immer noch herzlich gelacht wird, bis die Schenkel glühen, auf die man sich ob Krügers Gag-Staccato schlägt, bewundernswert. Offenbar gibt es unvergängliche Witzstrukturen, die nur geringer Aktualisierung bedürfen, um immer noch zu zünden wie ein China-Böller am Silvesterabend. Dass Frauen weder ordentlich Auto fahren, noch dasselbe einparken können, ist längst von der Wirklichkeit widerlegt. Aber als Topos für derbe Scherze taugt es nach wie vor. "Wenn der Mann getrunken hat, bitte nicht ans Steuer setzen. Da kann wirklich mal die Frau fahren", flachst Krüger, nimmt sich die geschickt inszenierte Pointenpause und schiebt den Lacher-Turbo nach: "Außer sie ist Bischöfin." Das ist zwar unter der Gürtellinie des guten Geschmacks, aber letzterer ist ohnehin nicht Krügers Kunst, kann also weg. Ebenso weite Witzfelder bieten ihm Alkohol und seine Nebenwirkungen (in der Hit-Persiflage "Ein Korn, der deinen Namen trägt") sowie das alternde Ehebett. Das Wasserbett, das sein witzelndes Ich angeschafft hat, um das Eheleben in neuen Fluss zu bringen, nennt die Gattin trefflich "Totes Meer". Ah, das macht lange Lacher auf kleinstem Witzraum.

Das ist womöglich doch Kunst, die nicht weg kann, wenn Krüger seine Mini-Sottisen aus den noch nicht ausgepackten Umzugskartons zieht. Kennen Sie den, den kürzesten Arztwitz? "Kommt ein Zyklop zum Auge-Arzt ..." Na, der braucht ein bisschen, ist fast schon zu wortverspielt für sein Publikum, das mit ihm in die Jahre gekommen ist. Oder der hier: "Was ist süß und schwingt sich von Ast zu Ast? - Tarzipan!" Kein Kalauer ist Krüger zu platt, als dass er ihm nicht mit sicherem Gespür auflauern würde. Zumal sich in manchem - nicht nur behauptet - aphoristische Dimensionen auftun: "Was haben Schmetterlinge im Bauch, wenn sie verliebt sind?" Und was ist in all den auf der Bühne gestapelten Kartons, die übrig geblieben sind vom Umzug vom provinziellen Quickborn ins mondäne Hansestädtchen Hamburg? Die "Pampers-Bestellung für Oliver Pochers neues Baby?" Auf jeden Fall eine Steilvorlage für den nächsten Gag von "Wunderkind" Mike, den seine Mutti einst warnte: "Du musst öfter deine Windeln wechseln, sonst wirst du am Po noch wunder, Kind!"

So windelweich stammtischfeuerwerkend geht es vergnüglich durch den Abend, unterbrochen von den knittelversenden Liedern des Barden Mike, die weg können, sind keine Kunst, auch wenn sie den Nippel zuweilen blues-verschmitzt durch die Comedy-Lasche ziehen.

--- snap! ---

Lange gearbeitet an diesem Porträt eines traurigen Clowns.

Weiter in der Nacht mit Lilly telefoniert. Unser Säuseln, die zarten Andeutungen und schwingenden Po.esie-Schläge. Letztes Gute-Nacht-Telefonat.

Danach noch KN-Vorbericht über die Nacht der Clubs im anstehenden Kulturrausch. Textfragmente im Kreisverkehr, Materialversammlung, nicht viel, aber mehr.

Langer Tag, leer, voll durch die Telefonate mit Lilly entlang ihrer Route, dem "long way home". Ex Home. Das Schüchterne des Schürzen Hebens. Traurig schminken sich die Clowns ihre Lippen kussrot.

Dienstag, 2. März 2010

Mo, 1.3.10 (Di, 2.3.10, 5:33): Seidiger Restschnee

Den ganzen Tag eine seidige Müdigkeit oder auch Einverstandenheit, Harmonie mit den "Verhältnissen". Und der letzte Tag vor Lillys Abreise zurück nach G.

Fast sieben Wochen haben wir alles geteilt, junge Liebe, aber erst heute, letztmöglich, der lange Spaziergang durch den noch wintergrauen Tag, der gleichwohl schon so etwas wie Frühlingserwachen ahnen lässt. Sie will ans Wasser, das innerstädtisch noch durch Hafenanlagen abgesperrt ist, dann aber an der Kiellinie Kontakt. Am Seehundbecken ein einsamer Seehund, der seine stoischen Runden zieht. Eisgrau alles, noch fehlend das Grün. Die ganze Meile bis zum Landtag, dann abgebogen in den südlichen Ausläufer des Düsternbrooker Gehölzes, wo der Schnee noch dicht sich schmiegt an die Wege. Treppenaufstieg ins Licht. Eine Lichtung, in der hoch oben der Wind rauscht. Stehen bleiben, atmen, küssen. Und weiter übers schneebedeckte Feld der Krusenkoppel. Auf dem Gipfel himmelsnah armgebreitet.



Abstieg entlang der Freilichtbühne, wo ich in der Kieler Woche immer "gewaltig leise", den Konzerten des Kulturamts, lausche. Davon berichten, der rasende Reporter, jetzt schleichender Reiseführer. Zurück vorbei am "Louf", Klavkis Schreibdomizil die Sommer davor. Und im letzten Spätsommer 08, als wir in Strandkörben lungernd die Espressi im Dutzend bestellten, redend über Literatur. Wehmütig schaue ich auf die noch bedeckten Körbe, das dürre Oliv der Planen, und denke an die Pläne von damals. Und dass Lilly da schon - irgendwie - da war, weil sie jetzt da ist. Licht ist Arbeit.

Ein Outdoor-Gefühl, das sich in Heimatliches verwandelt (aus dem Offenen an den Ofen), als wir der Stadt wieder näher kommen, während ich ihr berichte, wie es sich gestaltet, wenn schüchterne Männer an feengleichen Frauen "schrauben". Manchmal jahrelang. Löste sich ihre "Mutter" zu rasch unter meinen Schraubschlüsseln? Wäre mehr Sehnsucht glücklicher gewesen? Seltsam, wie ich mich bei dieser, ihrer Frage nach ihr sehne. Wie ich sehne, obwohl das Sehnen mit ihr erlöst ist - oder gerade deshalb? Ist Sehnsucht noch süchtiger, wenn man sich an sie erinnert?

Wieder im Buchladen, in dem ich etwas von Wohnzimmer oder Bibliothek empfinde. Erschöpft auf dem Kundenpolster sitzen und entzückt zuschauen, wie Lilly Bücher findet, sie mit Zärtlichkeit anfasst. Ihr Lächeln dabei. Ich schenke ihr Thommie Bayers "Singvogel", als sie entdeckt, dass das unsere Geschichte erzählt: älterer Mann, in Medien machend, wird von junger Frau, Studentin, angemailt, und es wird Liebe draus.

Wieder zuhause liest sie es in einem Rutsch. Und ich an unserem "Nostalgieabend" neben ihr im Bett lehnend Tim & Struppi Comics, "Die sieben Kristallkugeln", "Der Sonnentempel" und "Der Fall Bienlein". Den "Sonnentempel" hatte ich als Kind, weil es noch keine Kopierer gab, ausgeliehen aus einer Bücherei, mal abgezeichnet. Rührend finden wir das beide nachträglich. Über das Wasser der Förde, eisgrau, schaue ich gen Neumühlen-Dietrichsdorf, wo irgendwo auf dem Blocksberg (sic! die Straße heißt so) die Zweigstelle der Stadtbücherei steht, wo ich die Comic-Bände dada-mals immer wieder auslieh und von wo man auf das gegenüberliegende Fördeufer sch[a/e]uen konnte, durch die Regalgitter, wo ich jetzt stehe, an eisgrauen Frühstjahrsnachmittagen. Wie sich das alles fügt, verzahnt, fast tränen-tropfend, sinnlich sentimental.

Seidiger Tag, seidige Nacht. Restschneevongestern.

Montag, 1. März 2010

So, 28.2.10 (Mo, 1.3.10, 5:27): Jurassic Park

Sonntagsgräue, wäre da nicht das Lillylicht, das schon mittags mich wachstrahlt, und auch wenn ich mich in Arbeit verliere am Nachmittag und Abend. Der infomedia-Endspurt gestaltet sich mal wieder zäh, Ringen mit dem Datenwust, der nur halbwegs brauchbar angeliefert wird. Herumhocken auf Herrschaftswissen, zu mühsam, es weiterzugeben.

Dennoch gut gestimmt im stoischen Abarbeiten. Denkfaul die Handgriffe tun und sich befrieden. Man sitzt warm und trocken, verdient sein Geld als Tippse. Was kann daran verkehrt sein?

Und immer wieder das kleine große Glück der Ausflüge von den Tasten ins Lillyzimmer. Den letzten "Harry Potter" geguckt. Saga jetzt erstmal zuende. Das Universum, das sich da entfaltete, schon wieder geschlossen. Ein bisschen Trauer.

Lillys Daten von den Festplatten zusammensammeln, auch ihre KN-Artikel. Archivarbeit, die etwas enorm Beruhigendes hat, weil sie den Verlauf der Zeit dokumentiert. Deshalb auch das di.gi.arium: Zeit auf Festplatten festhalten, damit sie Spuren hinterlässt.

Melancholische Stimmung also im sich Regen, immer wieder von so filmerzählerischen Weltentwürfen aufgehellt. Und bei Lilly in ihrem Zimmer. Ein Häuschen, vor dessen Fenster es ruhig gleich schon wieder dunkel werden kann. Hier hat Welt keinen Zutritt. Wir aber Zutritt zur Welt, die sich aus Worten und deren Gebilden schafft. Bohème pur.

Draußen weiter Regen. In den Nachrichten heißt es, ein Sturm fege heran. Einer der ersten des Frühlings. Heimeliches Gefühl dabei unter der Decke in in jeder Hinsicht gut geheizten Zimmern.

Sonntag, 28. Februar 2010

Sa, 27.2.10 (So, 28.2.10, 5:06): Dekompostierungsmaschine

"Dichtung ist die Dekompostierungsmaschine der Sprache." Satz, der mir im Traum einfiel, bereits im Traum als Kommentar zum Traum. Mir träumte nämlich von einer Dekompostierungsmaschine, die aus Humus wieder die Pflanze zusammensetzt, aus der die Humuspartikel durch Kompostierung entstanden sind. Nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik ist eine solche Maschine nicht möglich, im Traum schon. Bevor die Dekompostierungsmaschine zum Einsatz kam, hatte die Entropie eines sozialen Systems, in dem ich mich befand, zugenommen, indem es zerbröselt war. Reißende Bindungen, Freunde, die sich nicht mehr verstehen, weil sie plötzlich unterschiedene Sprachen sprechen. Oder ein Haus, das explosiv eingestürzt war.

An einer handelsüblichen Kompostierungsmaschine fand ich jedoch einen Hebel, der sie reversibel arbeiten ließ. Man lud den Schotter auf ein Förderband, das sich in die Maschine fraß, und hinten kam wieder ein ganzes Haus raus. Oder aus Silbensplittern wurde eine ganze Geschichte, die hinten, am Ende der Dekompostierungsmaschine, als Film flimmerte, erst schwarz-weiß zuckend, sich dann mehr und mehr zu einem 3D-Hologramm zusammensetzend. Darauf ich, wie ich ein riesiges Orchester dirigiere. Ich sehe mir dabei von hinten zu (also von hinter der Leinwand, von dem Ort aus, wo ich zerborstene Celli auf das Förderband schaufele), wie ich einigermaßen hilflos dirigiere. Dennoch wird irgendwie Sinfonie daraus. Ein monumentales, kunstmonströses Geburtstagsständchen für eine verstorbene, jetzt aber wieder quicklebendige, Patentante. Gleichzeitig aber Geburtstagsgeschenk vom Filmteam, den Arbeitern, die die Dekompostierungsmaschine bedienen, für mich, der ich schon immer mal ein Orchester, ein ganz fettes, dirigieren wollte.

Der Dekompostierungsvorgang scheint aber nur einmal zu funktionieren, augenblickshaft. Man muss einen richtigen Moment abpassen, damit er funzt. Also ziemliches Rumgehühnere mit supergenauen, voll großen und enorm laut tickenden Stoppuhren, die alle genau aufeinander abgestimmt werden müssen. Zeitfragmentierung rückgängig machen. Sie laufen rückwärts. Countdown. Auch die Worte lesen sich alle rückwärts: Kompostor - Rotsopmok.

Mich quält, dass man diesen Augenblick der Dekompostierung doch eigentlich irgendwie dokumentieren müsste. Im Traum ist das die Gewissheit, dass man diesen Traum, so plastisch er ist, im Aufwachen vergessen haben wird, weshalb es eine Maschinerie geben müsse, ihn aufzuzeichnen. Da das eine schöne SF-Geschichte ist, bitte auch gleich mit einem Drehbuchdrucker hinten dran, um das alles nachher, wach, zu verfilmen. Es fällt aber schwer, ein Kamerateam aufzutreiben, das die Szenerie rund um die Maschine filmt. Schließlich leihe ich mir von einem der Rotsopmoks eine Kamera, nur fehlt mir eine MiniDV-Kassette. Der Rotsopmok hat mich noch gewarnt, dass mir die eh nichts nützen werde, denn in Folge des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik könnte man den von diesem "verbotenen" Dekompostierungsakt eh nur "live" übertragen. Ein Band werde hinterher nichts enthalten, nur "Humusrauschen". Ich mache mich dennoch auf die Suche. Ich weiß auch genau, wo in dem am Ende der Dekompostierungsmaschine wieder aufgebauten Haus MiniDV-Kassetten zu finden sind. Ich müsste mittels eines "Quantentunneleffekts" mal eben ganz kurz auf die andere Seite, um eine hierher zu holen.

Im Kreis Gelaufe in irgendeiner sich daraus ergebenden Paradoxieschleife, die ich ganz und gar verstehe, aber schmerzlichst in ihr leide. Filme mich dabei nabelschaurig mit der Kamera und lasse das "Humusrauschen" auf das Förderband der Dekompostierungsmaschine fallen, wo es sich mit dem Schotter vermischt und den Hauptsatz überlistend am Ende mit in den Film dekompostiert wird, in dem man nun aber alles, etwa mich, den Dirigenten in dem großen Haus mit dem großen Orchester, sowohl von hinten wie von vorne sieht. Der Angriff der übrigen Zeit auf die Gegenwart.

Schweißgebadet vom Dirigieren aufgewacht. Und noch trunken. Lilly steht vor der Tür und berichtet mir genauso trunken ihren Traum, der ähnliche Elemente durchkonjugiert. Und wegen der "Harry Potter"-Filme der letzten Stunden und jetzt gleich noch eines ("... und der Feuerkelch") gleichsam wissenschaftliches Gespräch über Fabelwesen wie die mich hoch faszinierenden "Dementoren".

Die Schwindelerregung hält den ganzen Tag an. Abends autoaufgefischt von dakro auf einer "Sylvester-After-Show-Party". Reste-Trinken bei Pipe L. in Fr'ort. Schön schräg wir stündlich trunkener werdenden Künstler, all die feinen selbstironischen Inszenierungen und Maskeraden, das Geschichtenerzählen in Gesten. Lilly und ich auf dem Sofa im Nebenraum, das aus lauter Brokat besteht, barocke Szenerie, gleichzeitig lippenfuseliggeredetselig. Blick auf den Flügel, auf dem keine Beethovenbüste steht, sondern ein abgegriffenes Portraitbild von Bernd Begemann. Rauchen am Kamin. Der quälende Traum löst sich in Rauch auf. "Expecto patronum!"

Samstag, 27. Februar 2010

Fr, 26.2.10 (Sa, 27.2.10, 7:59): "wie wolken um die zeiten legt"

Nach Eckernförde durch die Nacht, von Lilly zum Zug gebracht, zum Konzert des ensembles reflexion K in der St. Nicolai Kirche. Darin, als letztes, was ich schwänze, weil ich den Zug zurück noch kriegen will und weil ich es eh kenne, so sehr, dass es mir jetzt suchend in den Textarchiven nicht aus dem Sinn geht, Gerald Eckerts "wie Wolken um die Zeiten legt" (1996/97) nach einem Textfragment von Hölderlin und einem Gedicht von Saskia Reither.

Bestimmt eine halbe Stunde auf den Festplatten gesucht und erstaunt, wie weit das zurückliegt, was ich darüber schon schrieb, kommt es mir doch so nah vor, so wie mindestens letztes Jahr. Es ist jedoch so lange her wie der 7.11.2004, als reflexion K das im KulturForum spielte und ich unter der Überschrift "Mo(nu)mente des Verstummens" wie folgt darüber für KN berichtete (betreffender Ausschnitt):

(...) Das Motiv der Verfolgung durch die offenen Wunden der Vergangenheit findet sich auch in Friedrich Hölderlins letztem, vier Tage vor seinem Tod notierten Vers. "Wie Wolken um die Zeiten legt", dichtete der Umnachtete, befreit von jeglicher Grammatik. Zusammen mit einem Gedicht von Saskia Reither ist dies Motto und Material für die Komposition von Gerald Eckert, Leiter des Ensembles "Reflexion K". Eckert schafft ein klangliches Abbild des Unwirklichen, in dem schwindelnd hohes Akkordeon und Piccoloflöte neben dem dumpfen Atem von Bassflöte und gestrichenen Gongs stehen. Ein einleuchtendes, ja ergreifendes Monument für den Moment vor oder kurz nach dem Verstummen.

Etwas mehr als ein Jahr später, ich weiß nicht mehr warum, stieß ich am 15.1.2006 nochmals auf das Hölderlin-Fragment und machte daraus eine fugierte Variationenfolge, die außer im Forum der 13 noch nirgendwo online steht, weshalb ich sie hier poste:

--- snip! ---

hölder|on/lin\e

"Wie Wolken um die Zeiten legt ...

Und Schatten beschreibend hätt er
Der Augen Zorn ..."



1

wie wolken um die zeiten legt
sich marmor, gehet auf die knie
vor grabgesteingebirgen,

wo amor seinen pfeil gesandt
aus nimmermehr vermehrtem nie
in rosen einer laube.

wie monde heben sich den rock
am himmel, nein, vielmehr im loch,
so geht ein schilf auf reisen.

1.1

und schatten beschreibend hätt' er
vernagelte tür solcher horen,
der augen zorn.

ein sänger aus lust seiner wetter
wär' längst schon darinnen erforen,
lebendig' horn,

geblasen ist's sicher sein retter
wie lustig erschienen den mohren,
die waren vorn.


2

wie vollmond sich aufs altenteil,
vernarbtes, legt, aufs sterbebett,
als wär' zuhanden leuchten,

laternen doch der nacht auf wacht
die frechen eltern, feist im fick,
dass sie euch kinder machen.

aus gleichem glas den selben seim
ertrunken, schwebt es in sein grab
nach seiner schütt'ren bahre.

2.1

gleichwohl an der rampe lächelnd
und stöhnend den trank und säfte
hat's immer durst,

darob es sich gießt zerbrechend
ins scheiden derselben kräfte.
als taube gurrst

du da, ihr betäubung fechelnd.
ins herz rammst ihr wild die schäfte,
auch wenn du murrst.


3

betrunken von dem alkohol
und schwer bekifft ist das gedicht -
es singt doch von dem lieben.

und ist den worten viel zu wohl,
als dass es wäre schattenlicht
und henkersknecht den hieben.

es würde klingen, wär's nicht hohl,
wir würden's singen auch als wicht,
entflohen allen kriegen.

3.1

und schatten beschreibend hätt' er
uns nicht im vers beschrieben,
nur auch und jäh.

dass wir uns verjüngen dem zepter,
der krone, dem kreuz zerstieben,
ist unser weh.

--- snap! ---

Ohne genau zu wissen, was ich da schrieb, nur dass ich es schrieb, fiel mir, in der Pause rauchend vor der Kirche, noch ein Bild in den Kameraschoß: schnee.stein.



Etwas Meteoritiges (Komet = "schmutziger Schneeball"), die Meteo-Riten des Wetters aus den Überresten des Verstummens des Winters und seines (Grab-) Steinsturzes feiernd. Klang im Kopf aus Farben, die Kerzen vergilbt Schatten werfen. (Und dies Dichten um des Dichtens Willen, weil man sonst ausfließt, reines l'art pour Laertes, Studien an Hamlets Schädel, total selbstversunken und reichlich kunstmonsternd (wie sehr früh morgens die leinwändigen Schädel von T-Rex in "Jurassic Park II") ...)

... wie wolken um die zeiten legt sich dünner dunst ...

Freitag, 26. Februar 2010

Do, 25.2.10 (Fr, 26.2.10, 2:18): bleistiftgedicht

bleistiftige zeichnungen von den bleichgesichtern der träume, überspannt das bettfedrige himmelsgrau. die kugelschreiber ticken wie uhrgläser rieseln, filzgeriebene flitzer über das nackte papier, auf dem die singenden linien sich parallelytisch verschleifen. die bänder der frauen auf den tonbändern der geräuscharchive, kobolzende foleys, wispernd über die buchrücken, darunter das zartzeitgewichtige linnen, weiche tücher, die buchstaben zu wärmen, den versen hauch zuzufächeln und durst in die ferngläser zu gießen. die silbernadel des horizonts auf die weißen barthaare gezeichnet. bleistift versus kajal. kajaks neben doppelhüllentankern und in ihrem schäumenden fahrwasser. ruhig liegt der nordatlantik unter seinem nachthemd aus frühjahrseis. gänsegackernd der see im fahlen nachtlicht der innenstadt. es gilt, die leeren räume mit sinnfracht zu besetzen, dem schlaf seine geschichten zurückzuerzählen, den dampfenden pferden retourkutschen anzubändeln und die schiffe ihren häfen zu entfremden. es gilt, aus all den roten fäden stahltrossen zu flechten, den leuchttürmen babylonische anstriche und die abschiedszüge zu verpassen. es gilt, das blei des bleibens zu gießen in globuli homöpathischer dosen. steuermannlose u-botte mit käschern zu fangen aus dem teich, in dem die karpfen fett ansetzen. und die schoner sollen im horizont versinken, erst ihre fischleibig geschmeidigen rümpfe, dann die masten wie bleistifte im köcher des tintenfasses. und so wieder die ringe tragen, geschichten durch die nadelöre der o. zu garnen und den beinen ihre gespreiztheit durch die worte zu geben.

Donnerstag, 25. Februar 2010

Mi, 24.2.10 (Do, 25.2.10, 5:05): requiem.arbeit.der.kampf

Wege durch die Arbeiterkämpfe und die Buchtempel und die gemeinsamen Ermüdungen, Entspannungen, die spät abends zur Fortsetzung der Schau von "Pride & Prejudice" führen. Mr. Darcy! ... Und gemeinsam schwelgen in der mozartesken Filmmusik. Wobei mir ein weiterer "Joker" einfällt, um um Lilly zu werben und sie zu beeindrucken: Dass ich ja mal ein paar Sätze für ein Requiem komponierte, 1983 bis 1986, in letzterem Jahr sogar aufgeführt in der Anker-Gottes-Kirche zu Laboe.

Ich spiele es Lilly nicht nur vor, ich entdecke das Werklein dabei auch wieder. Zwar eine recht konventionelle, wenn nicht durch und durch romantelnd eklektizistische Vertonung der Totenmesse, gleichwohl so schön, wie Lilly sie jetzt findet. Und ich d'accord mit ihren Tränen und der Bewunderung über "ihren Künstler".

Durch vier Rechnerabstürze rette ich das Material ins Digitale und also für die Ewigkeit, von der es sein "lux aeterna" im Konjunktiv singt, nachzuhören wie folgt auf schwungkunst.de:

Requiem (in 9/10 Sätzen) (1983-1986) für Chor und Orgel (jm/ögyr, 1983 bis 1986) in der Aufführung vom April 1986 in der Laboer Anker-Gottes-Kirche mit Mitgliedern und Ehemaligen des Chores der Heinrich-Heine-Schule Heikendorf unter Leitung von Heike Meyer (Orgel: Helga Hoppe).

Dazu ein "bonus.track" von Anfang der 90er Jahre unter Verwendung des Soundmaterials (gemixt auf dem alten Amiga.2000), als ich die christliche Religiosität mit der Marx' verband: Arbeiterkampf, wie immer noch "Arbeit, der Kampf" ...



01: praeludium
02: requiem / kyrie
03: dies irae
04: liber scriptus
05: sanctus
06: benedictus
07: agnus dei
08: in paradisum
09: libera me
10: requiem.arbeit/d/er/kampf
requiem (gesamt + bonustrack)

Lilly fragt, ob man dies an meinem Grabe spielen solle. Ich antworte wie überhaupt ihr (mit Molly Bloom im "Ulysses"): "Ja, ich will, ja!" Wenn das nicht Hybris wäre, wenn mein jugendsündelndes Not(en)werkeln vor den Geschichten danach und all dem Leben und Einschlafen und Wiederaufwachen, vor all dem Alltag des Inneren Bestand hätte. Lilly berichtet vom Seelischen, während ich so und ein Zimmer weiter weg "und mit deinem Geiste" war. Gutenachtkuss und das "Agnus Dei" wie das "Libera Me" im Ohr.

... davor ...

"Salva me, fons pietatis ..."

Mittwoch, 24. Februar 2010

Di, 23.2.10 (Mi, 24.2.10, 3:05): In trockenen Schneetüchern

Etwas schlingernder Tag mit viel Kleinarbeit mit Liebe zum Detail (KN-Interview mit Hennes Bender, für das Lilly die Fragen erarbeitet hat, die sich als weiser herausstellen als meine routinierten es gewesen wären) und nachmittags Heimkino - "Heavenly Creatures", passend zur Parallelwelt hier innen und innig, aus der wir abends zum Literaturhaus aufbrechen, um eine Aufnahme fürs Literaturtelefon zu machen.

Durch den wieder überfrierenden Restschnee an die Förde, vorbei am Kleinen Kiel. Mondlichtbleich zuweilen, dann wieder Wolkenblei auf der Stirn. Geborgene Gespensterstimmung auf dem Wegabschnitt durch den Alten Botanischen Garten, wo der Schnee noch ungeräumt ist.

Schlafender Garten, über den die Schneefälle Schichten wie Tücher gelegt haben. Gibt es poetische Orte? Wenn ja, was macht sie zu solchen? Und sind das dann auch Orte, wo man gut schreiben könnte? Oder ist ein guter Schreibort der, wo sonst keine Poesie herumlungert?

Nachts weiter im Tagestickertext abzuarbeitender Mails. Dieser stete, tröpfelnde Strom von Arbeitsaufträgen. Das stoische Basteln an Anzeigen, das Umherschieben von Kästen auf der Fläche des Layouts. Laubsägearbeiten. Hier fallen keine Späne, hier wird nicht gehobelt, hier bleibt der Kragen rein und platzt nicht.

Wie lange will ich das noch machen, als Brotjob? Eine stupide Arbeit, dennoch bin ich die meiste Zeit des Tages gar nicht zu anderer in der Lage. Aber ebenso dennoch huschen die Kreativitätsfenster vorbei wie die eines vorbeieilenden, abgefahrenen Zuges.

Egal, wie auch immer.

Seltsam nüchtern nachts. Und teilend Lillys Unbehagen, dass unsere Zimmer einerseits zu weit auseinander liegen, andererseits zu nah für die Ruhe des Schlafs. Als bräuchten die Träume, auf den jeweiligen Lagern geträumt, aber genau diese Unbestimmtheit zwischen Nähe und Distanz, um sich im gleichen "Groove" zu bewegen, dem des Parallelweltlichen.

Leiser Plan für ein Gedicht, aber noch ungreifbar. Muss noch durch einen Traumwaschgang ...

Dienstag, 23. Februar 2010

Mo, 22.2.10 (Di, 23.2.10, 4:20): buch.stäblich

Eigentlich ja zartzärtlich gestimmt nach Schau von Lone Scherfigs "An Education"“ (und fortgesetzt hernach romantisiert auf den MacBook-Schirm gespannte "Sinn und Sinnlichkeit") im heimelich popcorn-knusprigen, Langnese-eiskonfektionierten Studio-Kino nochmal als "Fingerübung" nachts dies erotisiert gedichtet ("Auftragsarbeit" ;-) von Lilly):

buch.stäblich

du willst das dicke ding,
"amazing willy", "enormous prick"
schon, doch nicht, eh' er ist
leisetreter zwischen deine po-geebnet' zeilen.

dies händeblütenblätterpaar, wenn es
auf dir gewachsen keine wurzeln
schlägt, dieweil der hirtenstab
dir tief eindringt.

wenn meine fingersticks erschlagen diesen beat
aus buchenswerten deckeln,
auf denen fanden sie g'rad deinen topf,
sinkst du, in was du sängest

das leideliebelied à cappella de chopin,
den bauchmietzeltanz à la turca
"vorne mo- und hinten zart",
wie dichter gernhardt uns gern gerngehabt hat.

ich versteif' mich nicht
den küssen, lege kissen
dir unter dein haupt-
wort, um das verben werden werben,

die zu schön sind, dich
zu sehr,
zu ein-sam zu beflecken,
wenn wir uns're lippen lecken

wort um wort verstärkt versteckt
geklaubt aus innigsten
der innenräume, jungfernschaft
noch einmal auf den schaft geschafft.

du willst die dicke lippe,
dass ich sie rüstiger riskiere
als boxer, der den woofer-klang
der seile singt, in die er geht.

blutend liegst du monatsschwanger
auf meinem finger, forschend,
wo ich bartels seinen most
aus deiner dünnen haut geholt.

du willst den dicken
dichter, wie er auf dich seine leichten
blätter legt und spricht dir reiner sein
gebet, das endet - "amen" - deinen armen.

und seinen jakobsstab, der
rhythmisch sticht in wegesränder,
fischt die pfänder, denn der
plumpsack geht noch immer um in uns.

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