d.day - keine nacht für niemand

Freitag, 12. Februar 2010

Do, 11.2.10 (Do, 11.2.10, 23:40): SCHWANZLURCH

Die Angst vor dem noch nicht geschriebenen täglichen Text ist eigentlich eher die Angst vor dem auch noch nicht für morgen geschriebenen Text. Für heute wird einem schon was einfallen, zur Not "TEXT über TEXT", aber was kommt morgen?

Die heutige Angst vor dem Text nicht von heute ist eigentlich die Angst vor dem Leben von morgen, vor dem wieder aufstehen vom Lager nach der Verfassung des Textes von heute und dessen Ablagerung im Netz.

So sinnierend flattert aus der Netznachrecherche zum jüngsten Brüller des jüngsten Brüllers des so genannten Literaturbetriebs, nämlich Helene Hegemanns Auftritt in der "Harald Schmidt Show", ein Wort ins Word-Fenster, aus dem man was machen kann:

SCHWANZLURCH

Wie nämlich die fleißigen Feuilleton-Kollegen, bemüht, den "Fall Hegemann" einigermaßen ballflachhaltend in die Zeitungsspalten einzuschießen, artig recherchiert haben, ist SCHWANZLURCH die Gattung jener Axolotl, die Wunderkind H. einem literarischen Roadkill zuführt - um mal im Feuilleton-Sprech, also im Bild zu bleiben. Und: siehe da: Der SCHWANZLURCH aus Mexiko hat die Strategie herausevolutioniert, im Larvenstadium zu verharren und so ewig jung zu bleiben, was ja nun wiederum hervorragend zum "Fall Hegemann", zum "Fall Literaturbetrieb" und zum "Fall Jungstars" passt. Okay, denke ich, mag sein. Mich fasziniert eher der kraftausdrückliche Klang des Wortes. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen:

SCHWANZLURCH

Das klingt einerseits stubenhöckrig hautbleich, andererseits irgendwie notgeil onatorisch-onomatopoetisch. Du meine Güte ...



SCHWANZLURCH

Schwerst lurch-schlau ist auch Hegemanns "Geständnis" zu den Plagiatsvorwürfen, sie arbeite eben zeitkonform intertextuell. Das ist die einzig richtige Entgegnung auf einen Betrieb, in dessen Diskussionsstereotypen nur zu deutlich wird, dass es sich um eine Neiddebatte handelt à la: Schade, dass ich nicht auf diesen "Flow" gekommen bin, und umso besser, dass es ein anderer war, aber nicht die gehypte Hegemann. Sogar Kollege Florian Voß retourkutschiert im Forum der 13, die Hegemann habe schließlich bei jemandem abgeschrieben, der "nicht über eine Veröffentlichung im SuKultur Verlag hinausgekommen" sei. Subtext: War ohnehin Schrott, was sie gecopyt & gepastet hat - insofern ...

Schwanzlurchgeil ist dennoch das Intertextualitätsargument, das der Hegemann aus dem eigenen, auf Zeitgeistlauschen getrimmten Kopf entsprungen sein dürfte, kaum als nachträgliche Rechtfertigung irgendsoeinem abgehalfterten Lektoratslurch, der ohnehin auf Worte wie SCHWANZ, nicht aber INTERTEXTUALITÄT steht. Der Text ist der Hirte, nicht sein Autor. Endlich jenseits von dem kleinbürge(r)nden Urheberrechtsgedanken mal einsehen, dass Texte Eigenleben haben, dass AutorInnen allenfalls ihre Erfüllungsgehilfen sind - oder Hebammen. Das auch gegen das Gegreine, dass sich im Internet alles kopieren lasse. Ja, hallo! Eben das ist das T(r)olle am Internet, am freien Fluss der Daten und Texte. Dass eben alles mit allem zusammenhängt und dass das sich endlich auch formal spiegelt.

Wahrscheinlich muss man aber ein SCHWANZLURCH sein oder etwas von ihm haben, von diesem Dauergelarvten, von der Einbürgerungsunwilligkeit ins Leben, wovon, so höre und lese ich (ohne ihn gelesen zu haben), ja auch Hegemanns Roman handelt.

Leider bin ich infolgedessen auch mit dieser schwanzlurchig pubertären Meinung natürlich nicht allein, hänge am Rattenschwanz all der mit mir das Lurchige Bekennenden. Aber egal, immerhin hat

SCHWANZLURCH

das heutige Textfenster bereits trefflich gefüllt.

Hoch leben die SCHWANZLURCHE, die Waschbären und die katzengleich durch den Schnee hüpfenden Lillies! Von letzteren wäre nämlich heute auch zu berichten gewesen. Vom Ausflug in die Stadt auf dem Flüchtchen vor der Putzkolonne, von Stöberstunden in Asia-Art-Läden, wo es nach Patchouli und Ayurveda duftet, und Buchläden, wo es nach Druckerschwärze schnuppert. Von Mäusen und Menschen im Zoogeschäft, wo wir die Futterratten aufgrund meiner feuilletonistischen Bedenken nicht rechtzeitig vor den hungrigen Schlangenmäulern retten konnten und wo, hätte mich das Wort schon früher gestreift, auch SCHWANZLURCHE in "Aquarien/Ovarien" zu beobachten gewesen wären.

Mittwoch, 10. Februar 2010

Mi, 10.2.10 (Mi, 10.2.10, 23:15): Sonde

Orchesterprobe im Klaiber-Studio des Opernhauses. Setze mich direkt hinter die Hörner und neben den Pauker, der während 32 Takten Pause einen Roman liest, um einigermaßen unauffällig die Probe zu reportieren. Ich bin die Sonde im System, Daten sammelnd. Die üblichen Notizen über das Athletisch-Sportliche des Musik Machens. Später im Büro des Dirigenten auf eben den wartend. Er verspätet sich. Schlummere auf dem Sofa mit Block und Stift in der Hand fast ein. Auf dem Schreibtisch kreative Unordnung. Ein Cello steht stumm in seinem Futteral. Draußen vor dem Fenster Schneetreiben. Sonde außer Betrieb - oder im Energiesparmodus. Müde.

Später nach der Verfertigung des Artikels Hausbegehung mit Lilly. Verschachtelt versteckte Räume interessieren sie. In meinem Keller Kisten anschauen. Ich weiß selbst nicht mehr, was wo drin ist. Das vergessene Archiv. Funkkontakt abgebrochen. Der Geruch von altem Papier, tintenverschmutzt. Die Haare aus der Stirn streichen.

Auf dem Bett liegen. Immer am Rande des Schlummers. Schlummern mit Lilly. Wir gucken dazu Tatorte. Durch den Schnee doch noch zum Einkaufen. Die Schritte im Neuschnee seltsam gedämpft, als schliche man durch ein Wohnzimmer. In die Watte der Kälte verpackt, dürre Schneeflocken auf dem Gesicht.

Die Rättlein beobachten uns, wie wir hinterm Gitter hocken. Unser Käfig ist goldener und größer als ihrer. Und wir haben Freigang im Haus. Wir entwischen uns. Die Rättlein hoch interessiert schnüffelnd.

Ein alter Tatort aus den 70ern im TV. Sonde der Kamera, die in die Gesichter schaut. Kommissar Haferkamp zündet sich eine Zigarette an und trinkt ein Bier. Er hat Schwierigkeiten, die Täterin zu überführen. Ein "Winkeladvokat" läuft zu dialektischer Hochform auf. Athletisches Denken.

Der Text mäandert vor sich hin. Verschlungenes Flussbett, Schilf am Ufer. Seitenarm. Ein Nachen dümpelt im Heu.

Die Absätze, die das Denken macht, verkürzen sich. Am Ende bleiben Verszeilen:

--- snip! ---

gebälk

nest aus honig, schokoriegel
als kaffeelöffel.
die zungen tanzen umeinander
ihr silbenballett im schilf.

die silbrige süße des dämmerlichts,
wie sie durch die vorhänge schlich.
die hände, wie sie über
hände strichen,

begegnung des berührbaren,
seelensichtbar.
trinken in großen zügen aus
der wasserflasche.

lippiges, augenvertrautes
wie der klapps auf den po,
der nestbau im stroh
unserer verpuppungen.

einander bergen
im bau, unser lied auf den lippen,
in verschiedenen, unbekannten sprachen,
die sich auf liebe reimen.

entflogene amsel, noch unschlüssig
auf dem verschneiten fensterbrett
hockend. die augen geschlossen
erwartet ihr gefieder, dass es fliegt.

Dienstag, 9. Februar 2010

Di, 9.2.10 (Di, 9.2.10, 20:10): verse der verlorenen inseln

seid vorsichtig, ihr parzen, wenn ihr den faden spinnt, ihn zu schneiden

yacht, windig, ozean
der übriggebliebenen inseln,
unbewohnt, steilküstiges
robinsonar.

die yacht ist wie ein haus,
wellen bringen sie nicht ins schwanken.
drinnen, in der wanne drängeln sich
die haifische sardinendösend.



feueralarm, ausgehend von den
festplatten: wir retten die wichtigsten
bücher, die auf dem teppich blieben,
dem papier.

der erfinder des schießpulvers hat den pullover
so leger um die schultern
gewunden, dass man seine wunden
nicht sieht am handgelenk.

verzuckerungsprozesse zwischen den speckinseln.
es verbietet sich,
das schwein zu schlachten, solange es noch spart,
durch die tür zu gehen, solange

sie noch sperrt,
maul nachäffend ihr schloss,
der stift
als schlüssel.

der griechische philosoph
hat jahre darauf verwendet, mecklenburg-
vorpommerisch akzentfrei
zu dichten. stimmgabel (zwischen den zehen).



ozean, schwindelig, schwankende yacht,
der skipper bekifft,
die spanten mürbe,
unzüchtiges mehrjungfraugirlie am bug.

stripteasylistening den schößen
des gedichts, wie sie damasten
rascheln. heu in den scheunen
der liebe mit hang zur selbstentzündung.

wie ein u-boot, über dem, abtauchend,
die wellen beifall klatschen,
der duschvorhang leinwändisch schimmelt
und wir grundlos kentern.

Montag, 8. Februar 2010

Mo, 8.2.10 (Mo, 8.2.10, 23:13): verdichtung [] verdünnung

gefühlte gefechtsköpfe eilen geschmeidig über
eine hügel-
landschaft aus grün
unter blumentopftapeten.

etwas klingt wie musik, nicht
muzak, die musenwelpen stillende,
aufgewölbte brust
im flaum des bettes.

im sinkflug auf das im regenwald
verborgene flugfeld:
leuchttürme werfen ihre schatten an die
künstliche küste.

die kontrabässe sind in styropor-
schrot verpackt und recken sich
im schlaf
zu boden.

ein surrender gleichrichter
ist überspannt und lädt
ein seidentuch
elektrostatisch auf. zarte, bläuliche funken.

der suchstrahl eines wollfadens
beim aufrippeln eines strickstücks:
gamaschenmarsch durch die pompöse halle
einer billigenden absteige.

in edisons erster glühdirne
glomm ein verkohlter baumwollfaden
nur wenige
sekunden. licht ist arbeit.

zwischen den zähnen hat sich
silbenstein gebildet,
der mich versetzt,
indem er sich zersetzt.

was reimt sich auf rost?
wie rappt man ratlosigkeit?
wann küssen sich kissen,
und welcher tag ist kein tango?

bildschirme spannen ihr leinen-
tuch auf gegen den regen,
imprägniert vom zwitschern
geheimer morsezeichen.

cqd ... qed.
in der quetschkommode hecheln
engel die alten legenden:
süßlich duftende saurier.

(für lilly)

So, 7.2.10 (Mo, 8.2.10, 22:49): Sinken und Singen

Versinke immer wieder in polymorphen Rauschzuständen. Tastenterror. Erwachen daraus durch Lillys Gesang. Lilly hört Youtube und singt. Kennt fast alle Texte auswendig.

Gedanken über Rock'n'Roll. Lilly tanzt. Ich hoppele ein wenig mit.

Berauscht von ihrer Stimme und ihren Bewegungen.

Überlegungen, ob man das als Material für Text nehmen darf. Ist natürlich alles Material. Aber soll man es weiterverarbeiten, es als Rohstoff auffassen?

Oder einfach roh belassen?

Die Verarbeitung schafft Distanz und Deformation des Materials. Grunsätzliches Problem der beobachtenden Haltung, des "This is a recording".

Andererseits: Kunst entsteht durch solche Transformationsprozesse. Das funzt bei mir aber zur Zeit besser mit bildgebenden Verfahren. Text scheint mir in seiner Abstraktion zu konkret. Der Dichter singt nicht, er sinkt.

Lillys Soundtrack schafft Geborgenheit. In Geborgenheit werde ich häuslich, gemütlich, verkriechend. Text wäre Ausbruch in unbekanntes Land. Ich will aber nicht ausbrechen, ich bin nicht im Gefängnis. Ich bin zuhause.

Zuhause mit Lilly, die singt.

Unbestimmbares - und das ist gut so - Gefühl von Glück.

Versinke darin, nicht in Text.

Trunken.

Sa, 6.2.10 (Mo, 8.2.10, 0:22): Verschwindeln hinter

Lilly meint, ich solle weniger verschwinden, weniger nacheilen und vorgreifen. Lilly meint, ich solle einfach nur mal Text sein. Geht grad nicht, weil noch Material lungert. Eben dies zu Filmklang verdichtet, die Enjambements in Mind, das Tastentatzen.

Kunst.

Fernweh. Fern von mir.



Die chiffren wimmerten, ich ihnen nach:

--- snip! ---

Partikelforschung im Klanguniversum

Die chiffren-Konzerte am Sonnabend betrieben eine fröhliche Klangwissenschaft.

Dada lässt grüßen, und das schelmische Vergnügen ist groß, wenn vier Lautsprecher, zwei Megafon- und ein Fahrradspieler aus dem Kammerensemble Neue Musik Berlin auf die chiffren-Bühne in der Halle400 treten und Stefan Bartlings "MIT NAMEN & Randnotiz" (2002) inszenieren. Da wird ebenso fleißig wie buchstäblich an Marcel Duchamps und der Neuen Musik Rad gedreht, dass der Freilauf ungestüm klackert und sich megafonisch am vielstimmigen Chor des Namedroppings von bedeutenden Künstlern der Moderne bricht.

Man könnte Bartlings Komposition als Persiflage auf die Neutönerei der Postmoderne verstehen, allein, das Material, das er hier so krude durch den Klangkakao zieht, beweist - wie so oft bei den chiffren-Konzerten am Sonnabend - Eigensinn. Wenn Jean-Luc Hervé in "En découverte" (2003) das flirrende Wechselspiel zweier Violinen aufdeckt, fühlt man sich ebenso als Voyeur des Klangs wie der sanft bewegten Bilder von Schlafenden in U-Bahnen, die Natacha Nisic im Video dazu eingefangen hat. Hören wir die Traumharmonien dieser Schläfer oder den Soundtrack zu ihren unsichtbaren Filmen hinter geschlossenen Augen?

Die Stärke der zeitgenössichen Neuen Musik besteht darin, dass sie Fragen stellt statt solche formvollendet zu beantworten. Sie erforscht die Partikel im Klanguniversum und hat dabei sowohl das Mikro- als auch das Teleskop am sehenden Ohr. Daniël Ploegers "Untitled (voice, weapon, megaphon)" (2007) hat dazu den klingenden Krisenstaub an der Damarkationslinie zwischen Israel und Palästina zu einer Performance für Posaune und Kassettenrekorder zusammengekehrt, die archaisch wirkt, sowohl im verzerrten Rekorderklang wie dem der Posaune, die einst biblische Mauern zum Einsturz brachte.

Ein nicht minder eigentümliches "Tuba mirum" analysiert Luigi Nono in seinem "Post-Prae-Ludium per Donau" (1987). Die Tuba und ihr live-elektronisches Echo spielen sich dabei die obertönigen Bälle des Klangspektrums zu, geraten im fünffachen Forte in schrille Übersteuerung und im siebenfachen Piano in den Zwischenraum zur Stille. Die physikalische Gegebenheit, dass jeder einzelne Ton in seinem Ober- und Differenztonspektrum bereits alle anderen mikrotonalen Töne enthält, reist man nur weit genug in die Tiefen des Universum jeder Klangpartikel, entdeckte Gérard Grisey mittels der sonografischen Analyse. In seinen "Périodes" (aus: "Les espaces acoustiques", 1974) synthetisiert er unter weitgehendem Verzicht auf Rhythmus die Klänge von Posaune und Kontrabass mit Flöte, Klarinette, Violine, Viola und Cello. Das kann kein Synthesizer besser - eines der beindruckendsten Klangforschungsprotokolle des Abends. Ana Maria Rodriguez’ Komposition für Trompete, Perkussion und Live-Elektronik (2009) nach einem Gedicht von Ron Winkler wirkt dagegen geradezu "old-fashioned". Soll es auch, denn es kreist um den Sound von "Radiostationen der vergessenen Städte".

Löblich an chiffren ist auch, dass sie neben aktuellen Klangforschungsergebnissen auch solche aus der "Klassik" der Neuen Musik präsentieren. Für Karlheinz Stockhausens 1970 komponiertes "Mantra für zwei Pianisten" braucht man zwar einstündiges Sitzfleisch, aber das wird belohnt durch manches Bildungserlebnis. Geradezu mathematisch deklinieren Jennifer Hymer und Bernhard Fograscher (Klangregie: Sascha Lemke) Stockhausens serielles Variationsuniversum durch, das er aus dem Atom eines 13 Töne umfassenden Motivs entwarf. Grundlagenforschung, die gerade der neuen Avantgarde zugute kommt, wie das LandesJugendEnsemble Neue Musik Schleswig-Holstein gestern zum Abschluss und Ausblick der dritten chiffren-Biennale bewies. Die forschende Zerlegung des musikalischen Materials geht weiter und eröffnet damit immer tiefere Einblicke ins Klanguniversum, das vier Tage lang das Kieler Publikum faszinierte.

--- snap! ---

Derweil, während ich hinter Kunst und Wein verschwindel, schläft Lilly. Jetzt.

Sonntag, 7. Februar 2010

Fr, 5.2.10 (Sa, 6.2.10, 17:25): Textfelder

Aufwachend diesen Satzfetzen auf den Lippen und in den Fingern: "... als öffneten sich die scharen der dinge ..."

Eher unpoetisch dann, auftragsmäßig abgezogen von chiffren, im KulturForum bei Guelma Lea. Was soll man noch schreiben über die hundertunderste Jazz-Singer-Songwriterin? Bisschen ratlos. Dann aber doch wider Erwarten recht flüssig Metaphern gehubert:

Frech geträumte Balladen

Guelma Lea und ihr Trio spielten im KulturForum eigensinnig mit Jazz-Standards und eigenen Songs.

Gleich mit dem Opener im etwas spärlich besuchten KulturForum beweist Guelma Lea Eigensinn in mehrfacher Hinsicht. Keiner der Jazzstandards, an denen sich Hörgewohnheiten und eine Sängerin ihre Stimme aufwärmen könnten, sondern ein eigener Song von ihrem letzten Album "Going With The Flow". "Dreamin'" titelt das Gute-Nacht-Lied aus dem Schattenreich balladesker Emotionen, das Lea jedoch ganz frei von bluesigem Pathos singt, eher auf eine boppig-freche Weise entspannt.

Ein Song fürs "Laying back", doch das mit angespannten Gefühlsmuskeln, lasziv wie eine Bar-Ballade und doch lebenserfahren abgeklärt, wenn Lea die Schatten der Liebe jagt wie Schimären, die vor dem inneren Ohr zwielichternde Gestalt annehmen. Im Rückblick auf das Konzert möchte man dieses hemmungslos "coole" Sezieren eines Gefühls als den größten Wurf des Abends nehmen, enthält er doch bereits alles, was Guelma Leas Gesang und Jazz-Singer-Songwriting ausmacht, die später (un-) artig abgespulten Standards als eigenwillig und die eigenen Lieder als Standards von morgen erscheinen lässt.

Ganz und gar kein Wiegenlied ist somit auch "Lullaby Of Birdland". Schon aus der Feder von George Shearing war der Titel ironisch gemeint, welche Brechung Lea verstärkt, indem sie mit der Stimme eines frechen Mädchens singt, etwas rau, keck, nicht ohne verführerische Absicht. Genau in diese widerständige Kerbe schlägt auch ihr Trio, das die rhythmischen Fußangeln aufdeckt und den Zuhörer gleichwohl immer wieder in die harmonisierte Falle tappen lässt. Überhaupt sind Leonid Volskiy und sein kantiges Tastenspiel, Martin Drees am oft ins Funkige tendierenden E-Bass und Jerry Demons auf in ihrem zurückhaltenden Einsatz erstaunlich druckvollen Drums weit mehr als das übliche Begleittrio. Auch sie wachträumen sich im positiven Sinne respektlos durch Stil- und Klangfarben und legen selbst in Balladen wie "You Go To My Head" erfrischende Tempi vor, auf welchem frechen Fauteuil Guelma Lea sich nachdenklich räkeln kann.

So ist man sich als Hörer auch nie ganz sicher, von wem das Widerborstige etwa im Standard "You Don't Know What Love Is" ausgeht. Sind es Volskiys bluenotige Skalen und Hakenschläge auf dem Piano oder Leas in abgeklärter Laszivität beinahe gelangweilter Gesang? Eine zeitgemäße (Neu-) Interpretation des Songs, die Ella Fitzgeralds im Blues verschleierte Wut über den unkundigen Lover mit der postmodernen Ratlosigkeit über das Verschwinden der ganz großen Gefühle mischt. Gerade auch in den eigenen Liedern, etwa dem schnippisch schwebenden "Volatile", versteht es Lea, aus der Grundstimmung der Desillusion die großen Gefühle neu zu destillieren. Erst indem wir nicht mehr wissen, was Liebe ist, können wir sie wieder leben.

Natürlichkeit wiederersteht aus ihrer Dekonstruktion. Nat King Coles "Nature Boy" wandelt sich so vom urwüchsigen Naturburschen zum urbanen Typen, der mit seiner Natur zu haushalten weiß, "Summertime" wird statt zwischen Baumwollfeldern im Neonlicht der Großstadt empfunden, und die "One Note Samba" findet sich zwischen raspeligem Rap und swingendem Scat statt in der Latin-Lounge wieder.


Kunst über Kunst wird daraus freilich erst, wenn man die Textfläche als Fläche mit Grauwert sieht. Dazu kleine Collage, die Bildidee dazu kam im Dämmer des Halbschlafs während einer länglichen Ballade.

Freitag, 5. Februar 2010

Do, 4.2.10 (Fr, 5.2.10, 17:08): chiffren

Weiter geht's mit Kunst über Kunst, diesmal sogar dritter Ordnung, also Kunst über Kunst über Kunst. Eröffnungskonzert von "chiffren. kieler tage für neue musik". Nehme mit dem iPhone auf. Hinterher noch Bildmaterial in der dazugehörigen Ausstellung "3896618514" von Studierenden der Muthesius-Kunsthochschule gesammelt und daraus einen Film mit "Bild im Bild" zusammengebastelt.



Bestehend aus folgendem Material: Installation "inattentional blindness" von Alexandra Rongalli (Film) // Installation "Abilify" von Nina Resl (Ausschnittsfoto) // Gerald Eckert das ensemble reflexion K dirigierend (Film) // Soundcollage von Eva-Maria Sahle (Rückkopplung als Modus) (Sound) // Ausschnitt aus "Traces des moments" (2000) von Isabel Mundry (Sound).

Aus meinem Notizbuch hier munter hintelegrafiert: Schweller und Abrisse // geschlossene Anfänge und offene Enden (was ist dazwischen?) // Aufwerfungen und Verdichtungen // Pointilismus des Klangereignishaften

Stumm dagesessen und gelauschschaut. Bilder imaginiert, synästhetisch.

Donnerstag, 4. Februar 2010

Mi, 3.2.10 (Do, 4.2.10, 17:14): Dopp[el/ler]effekt

Nach dem Modus "TEXT über TEXT" nun auch Kunst über Kunst. In der Kunsthalle in der Ausstellung "Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft" (vgl. NDR-Beitrag darüber).

Einfach nur Wahrnehmen ist nicht. Ich möchte gewissermaßen produktiv wahrnehmen. Knippse mit dem iPhone herum, wie ambitionierte Amateure es tun. Hinterher wirkt das wie Kunst. Allerdings nur, weil das Abgebildete schon Kunst ist. Ein Doppelungs- und Doppler-Effekt, annalog zu letzterem verschieben sich die "Frequenzen" bei Annäherung und Entfernung des betrachteten (Kunst-) Gegenstands. Wieder das Paradigma: "Je näher man etwas ansieht, desto ferner blickt es zurück." Deshalb braucht es das Distanzmedium zwischen Betrachter und Kunstwerk, damit man nicht zu nah dran ist. Eine Art Unschärferelation der Betrachtung.

Oder, indem ich eine Metaebene dazwischenschalte, etwa aus dem ruhenden Bild bewegtes mache. Das um die Skulptur herum Gehen. Bei Boris Hars-Tschachotins Arbeit "Lurch" ist das nochmals eine Doppelung, denn in der Ausstellung ist sowohl sein Kurzfilm "Lurch" (2000) zu sehen als auch das Setting aus dem Film als Skulptur aufgebaut. Aus letzterer mache ich wieder einen Film, der die Bewegung der Kamera um die Skulptur herum zeigt.



Hars-Tschachotins Film war schon mal in Berlin im Theatrum naturae et artis zu sehen. Dazu heißt es dort:

Ein ungewöhnlicher Kurzfilm erwartet die Besucher des Martin-Gropius-Baus ab dem 10. Dezember (2000): LURCH ist der erste Spielfilm, der in der - für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen - Reptilien-Sammlung des Berliner Naturkundemuseums gedreht werden durfte.

Die Zeit scheint stillzustehen an diesem bizarren Ort. In den labyrinthartigen Gängen ruhen die Überreste des Forschereifers vergangener Jahrhunderte: Tausende von Schlangen, Fröschen und Lurchen, für die Ewigkeit eingelegt in Alkohol. Hier bekommt der Arbeitslose Kuno Neiff (Chajim Koenigshofen) die groteske Sisyphus-Aufgabe, in den unzähligen Gläsern den ständig verdunstenden Alkohol nachzufüllen. Sein Ekel weicht, als sich durch ein Missgeschick der Inhalt eines der Gefäße über ihn ergießt. Neiff entdeckt, dass den Flüssigkeiten feine Bouquets innewohnen. Von nun an probiert er sich quer durch die Sammlung und führt akribisch Buch über die Aromen von Fröschen und Lurchen. Er beginnt, die Rufe der Reptilien zu hören, mehr und mehr zieht ihn die Sammlung in ihren Bann - bis Neiff schließlich selbst ein unsterblicher Teil von ihr wird.

LURCH ist das Debüt des jungen Berliner Filmemachers und Absolventen der Humboldt-Universität Boris Hars-Tschachotin. Als Darsteller konnte der Regisseur die renommierten Schauspieler Chajim Koenigshofen und Hans-Michael Rehberg gewinnen.


Unklar, welches Erkenntnisinteresse ich bei der Verfertigung dieses Beobachtungsprotokolls habe. Versuche, noch Querbezüge zu anderen Arbeiten der Ausstellung herzustellen. Wobei die Filmaufnahmen und die eingeklickten Fotos eher dadurch ausgewählt sind, dass die "gut aussehen", als dass hier irgendetwas dokumentiert wird. Vielleicht höchstens mein Blick darauf. Der etwas "Schräges", Skizzenhaftes haben soll, damit Verfremdung entsteht, Kunst. Das ist recht dümmlich, macht aber Spaß.

Im übrigen ist es mein normaler Feuilleton-Modus, mit dem ich Kunst in einem wiederum mit künstlerischen Gestaltungsmitteln arbeitenden Text beschreibe.

Lilly hat in der Antikensammlung eine Idee zu einem Foto, das diesen Dopp[el/ler]effekt der Betrachtungsbegegnung mit und Bewegung zwischen Kunst treffend spiegelt. Natürlich darf dabei an Michelangelo und die Sixtinische Kapelle gedacht werden ;-)



Und 2 Variationen:

Mittwoch, 3. Februar 2010

Di, 2.2.10 (Mi, 3.2.10, 15:45): Requiem für Karstadt

Bei Karstadt ist Räumungsausverkauf. Alles muss raus, weil die Filiale geschlossen wird.



Besuch wie auf einem Friedhof. Offene Warengräber. Alles ist reduziert. Die Waren wirken wartend und wertlos. Niemand willl sie haben.



Streunende mögliche Interessenten. Leichenfledderer. Eine Atmosphäre des Abbruchs. Eine einsame Werbefrau spricht ins Mikrofon. Sie bittet ins Warme. Draußen Schnee. Hier die Warenwunderwelt - entzaubert. Abwrackprämien.



Selbst als nicht gerade Freund des Kapitalismus, des entfremdeten und entfremdenden Warenverkehrs, ergreift mich ein Gefühl von Trauer. Zumindest Melancholie angesichts geleerter Regale, die nun auch nutzlos sind. An einigen Vitrinen kleben Zettel: "Reserviert". Auch das Interieur wird abgewrackt.



Das Warenparadies - erst jetzt, wo die Verkäufer mit Kistenwagen darin umherhuschen und die Schnäppchenjäger unschlüssig Früchte vom Boden aufheben, hat es den Hauch von Paradies.



Es ist nicht mehr Lüge, kein Betrug mehr. Es hat sich entlarvt, indem es scheitert, verschwindet. Der Warentraum ist erst Traum, als er jetzt ausgeträumt ist. Erwachen in sich leerenden Hallen.



Einsam rollen noch die Treppen, spiegeln sich in sterbendem Glanz der Tempelfassaden. Dies ist Babylon, untergehend.



Und die Innenarchitektur wird sichtbar, wo sie sich leert von all dem Flitter und Tand, dem Nutzlosen. Ihres Zwecks beraubt dehnt sie sich ins Schöne, ins Wahre. Aus dem Konsum wird Kunst.



Ein sanftes Requiem, die Schnäppchenansagen. Das Säuseln der Muzak, die zum Lied wird, orphisch, unterweltlich. Das Sein hatte das Bewusstsein überwuchert, jetzt tritt es zutage.



Kaufhaus, Laufhaus. Erst jetzt ist es Tempel. Verlust sein Gewinn. Die Hallen geheiligt.



Was wird aus ihnen? Wenn das Haus ganz entleert ist, müsste man da nochmal Kunst reinechoen, wispernde Texte durch die Gänge schleichen lassen. Ich sehe Streichquartette auf den Rolltreppen sitzen, Miniaturen spielend, die genau eine Rolltreppenfahrt dauern. 1. Satz vom Erdgeschoss in den ersten Stock, 2. Satz vom ersten in den zweiten usw.



Trunkene, die sich in die Regale legen, gebettet auf den verlassenen Pritschen der Waren. Ein Schlafhaus für eine lange Nacht der Poesie.



Am Eingang gibt es Bockwürste aus einem dampfenden Kessel. Hartes Brot der Verspätung für Verspätete.



Prozentzeichen wie Kainsmale. Redux. Requiem. Ruhe, und endlich Ruhe.

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