Sonntag, 7. März 2010

Sa, 6.3.10 (So, 7.3.10, 5:50): Beats und Bratwurst

Wiederum verspätet die Zeit und ihren schneienden (und scheidenden), dann wieder schmelzenden Verlauf wenn nicht einholend, dann überholend, bin ich mit Foto-Kollege Bevis in der Nacht der Clubs zum Start des Kultur-Rauschs unterwegs.

In der Endstation Halle400 rege ich mich darüber auf, dass immer noch und immer wieder der Mainstream den House verstümmelt. Liegt daran, dass ich derlei in der metamorphen Form Goa in den frühen 90ern komplett verdrogt erlebte und (nach)ersann. Jetzt aber bin ich zu nüchtern, als in den Party-Girlies nicht bloß von ihnen selbst inszenierte Sexabziehbilder zu sehen. Eigentlich ja gut, dass ich mich nicht umgarnen lasse, zumal das Lilly "live und in Farbe" besser kann, besser, weil geistiger, also körperseelisch vermittelter. Kurzum: poetischer. Die dummstrohpüppienden Chicks nerven einfach mit ihren Handys. Kommt das hier rüber, in dieser Textbratwurst?

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Bühnen, Beats und eine Bratwurst

Auf Tour durch die Nacht der Clubs zum Auftakt des Kultur-Rauschs.

Kiel - Wie vielfältig die Kieler Club-Landschaft ist, will der Kultur-Rausch alljährlich zeigen, und demonstriert all die Kontraste und Gemeinsamkeiten "guter Nachbarschaft", unter welchem Motto seine zwölfte Ausgabe einen Monat lang steht, gleich zu Beginn in der Nacht der Clubs.

Geradezu ein Sinnbild für kontrastreich gute Nachbarschaft erleben wir am Ende unserer Tour an und in der Halle400. Innen ist auch um Mitternacht die Tanzfläche mehr von psychedelischen Lichtspielen der Latenite Extravaganza House als von Tanzbeinen erfüllt. DJ Francesco Diaz aus dem Hamburger Upper East wirkt mit seinen poppig weichgespülten House-Beats noch recht extravagant, um nicht zu sagen deplatziert. Überhaupt mag man über solche allzu mainstreamige Art des House streiten. Doch soeben hat der Shuttle-Bus eine neue Ladung zumindest der Kostümierung nach tanzwütiger Party-Girlies angekarrt, die den Anfang machen, obwohl manches noch mehr mit dem Handy als den Highheels herumwirbelt. Es wird noch telefoniert und gesimst, ob in der Bergstraße "eventuell mehr geht". Draußen erwärmt man sich derweil an einer zünftigen Bratwurst vom Schwenkgrill, ein würzigerer Geschmackskontrast mit einem Hauch von Kieler-Woche-Rau(s)ch.

Weder von Kultur, noch von Rausch ist hier also viel zu spüren, wobei wir mal zugute halten wollen, dass es dem Kultur-Rausch auch um die Erweiterung des Kulturbegriffs geht. Insofern: Biedere Lightshow-Extravaganz und Würstchen, das passt schon. Es geht aber auch anders. Wie im KulturForum und benachbartem STATT-Café, die schon um 20 Uhr rappelvoll sind und wo sich A cappella-Grooves und solche der funkig-jazzigen Art die Bühnenklinke in die Hand geben. Das Funk Kombinat Kiel mixt den gehaltvollen Aperitif und lässt hören, wo im Jazz der Hammer hängt, genauer: die Hammondorgel, und der gitarreske Funke mit einem Schuss Santana aus dem soliden Amboss von Perkussion und Bass geschlagen wird. Derlei Grooves kann man auch nur mit dem Mund machen. Die fünf Jungs von High Five beweisen es vor übervollem Haus im KulturForum. A cappella-Gesang, der viel mit Mundschlagzeug und satten Beats arbeitet - und mit gewitzten Texten etwa über die Eigensinnigkeiten von Frauen im Kaufrausch. "Wie Pech und Schwefel" vereinigen sich die fünf kontrastierenden Stimmen zu einem auch kabarettistisch hochexplosiven Gemisch, das ebenso die gute Nachbarschaft der Close Harmony perfekt beherrscht.

Um die Grooves der Stimme(n) geht es auch im Blauen Engel. Joy Smith beweist dort, dass selbst eine jugendliche Stimme schon wie die einer weisen Soul-Lady klingen kann. Von Joys angekündigter Heiserkeit ist dabei kaum etwas zu spüren, es sei denn, man interpretierte sie treffend um in einen Soul-Sound, der gecoverten Songs wie Alicia Keys' "If I Got You" das Feuerwasser reichen kann. Begleitet unter anderem von ihrem Vater Mark Smith an Keyboard und einer funkigen Gitarre probiert sich Joy längst nicht mehr nur aus. Ebenso elegant wie versiert schnurrt sie durch die Register ihrer ungewöhnlich vielschichtigen Stimme zwischen engelhaften Höhen und "schwarzen" Tiefen.

Joy Smith hat den Soul und R'n'B mit Löffeln gefressen, die Band The Beat Goes On den rock'n'rollenden "Sound der Sixties". Die sechs älteren Herren geben davon in der Hansa48 so manche gereifte und gut abgehangene Kostprobe auf der "Route 66" in alte Zeiten, die wieder ganz und gar modern sind, weil sie nie alterten und altern werden. Manches bleibt einfach immer jung, wovon man sich auch im Luna überzeugen kann. Dort erweist sich das Hamburger Quartett Herrenmagazin als gelehriger Schüler der Hamburger Schule, die in den frühen 90ern den deutschsprachigen Rock neu definierte. Die Band in klassischer Besetzung, zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug, hat "auf einer unsichtbaren Reise dasselbe Ziel": Nämlich Punk und Rock'n'Roll in kontrastierend gute Nachbarschaft zu bringen. Herrenmagazins Songs brauchen dabei selten mehr als zwei Minuten, um ihr Centerfold klar und bündig aufzuklappen. Feine Sache, das. Trotz Sound-Problemen nach fliegendem Wechsel eines defekten Gitarrenverstärkers.

Dass ein paar Schritte durch den erneuten Neuschnee weiter, in der Schaubude, die Band Supermutant Herrenmagazin als "unser Support" bezeichnet, ist wohl etwas hoch gegriffen. Dennoch weht durch Supermutants angepunkte Songs ein den Hamburgern nachbarschaftlich verwandter Geist: Plötzliche Rhythmus- und Stimmungswechsel, Punk allenfalls als Haltung und Folie, auf deren rutschiger Oberfläche man den deutschen Rock wieder und wiedermal neu erfinden kann. Weiter so, freut man sich - und möchte weiter so ins Weltruf, wo Captain Capa "elektronische Tanzmusik für alle bieten, die sich lieber was mit Gitarren angehört hätten". Das klingt schon dem Vernehmen nach interessant. Allerdings schlägt hier der Terminplaner kontrastreich ins Kontor. Um 21.30 Uhr, als wir das erste mal pünktlich zum angekündigten Termin im Weltruf auftauchten, spielten sie "noch lange nicht", um 23.30 Uhr sind sie leider schon "längst durch". Egal, es gibt ja noch Myspace, wo man dem Duo nachträglich lauschen kann.

Indes zeigt dieses Verpassen eine kleine Schwäche der Nacht der Clubs: Wer in nur einer Nacht durch möglichst viele der Kieler Clubkulturen rauschen möchte, ist darauf angewiesen, dass die angegebenen Anfangszeiten einigermaßen stimmen. Wenn man aber in der Piola-Bar, wo es laut Programm ab 20 Uhr schon karibisch zugehen soll, auch um 22 Uhr noch vom Türsteher auf später vertröstet wird, muss sich ein solcher Club nicht wundern, wenn er gähnend leer bleibt. Es sei denn, man könnte statt Karibik noch 'ne kontrastierende Kulturbratwurst ziehen wie vor der Halle400.

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Was soll (und will) uns dazu die Bratwurst sagen? Phallussymbol, in das ich mich gerne (ab)gebissen sähe?

In der kurzen Pause vor dem Luna, wo Bevis eine Pizza-Ecke verhaftet, stehe ich (verraucht-berauscht) an der Ecke, und seine Kamera verzeichnet ein ziemlich treffendes ögyr-Bild: Intellektuell genervter Gesichtsausdruck. Zigarette natürlich. Sartre! Nietzsche? Adorno!



Wie war das nochmal gestern mit der zutiefst modernen Romantik?

Dieser Bart in meinem Gesicht! Wa(s)chbärig. Aber auch landstreichend im Wortgetüm.

Und die Wurst liegt mit ihren nur zwei Enden schwer im Gedärm. Nachts im sterilen Loft ohne nostalgisches Orangen-Uhrwerk trinke ich das konsequent weg (was auch das Ohrrauschen verstummen lässt) und habe dazu auf dem rechten Mac-Schirm das Continuo der "Haifischbar-Nacht" im NDR - all die schlagerromantische Seefahrtsromantik. Zum Weinen, also Nein-Schreien.

Im Regal schlummert noch unzusammengeklebt das Revell-Modell 1:1200 der Titanic. Genau! Wir wollen aufgehen im Untergehen. Iceberg ahead!

Fr, 5.3.10 (So, 7.3.10, 4:40): Uhrwerk-Orange

Infolge Schlafkrankheit (und von Erkältungssekret gluckerndem rechtem Innenohr) wieder mal mehr als einen ganzen Tag im Verzug im di.gi.arium und auch sonst.

Indes, die Nacht zum Arbeitstage aufheben (oder absenken) (und den darauf folgenden Tag zu übernächtigen), das konnten schon die Romantiker: Für KN beim chiffren-Konzert des NDR-Chors und Elbtonalpercussion mit Hommagen an Schumann und Mahler. Nah diesen Stimmungen, die sich da verraten, sagen wir ruhig mal wieder: kassibern. Top Secrets aus verhärmten und selbstverschütteten Seelenprotokollen (gerührt und nicht verschüttet).

Ich schreibe wie folgt darüber (nur zur Illustration hier gepostet - und auch dazu, einen Diskurs über die Modernität der Romantik einzuleiten):

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Wiederentdeckte Romantik

NDR-Chor und Elbtonalpercussion beim chiffren-Konzert in der Halle400

Kiel - Die Romantik war der Moderne und damit auch der Neuen Musik lange Zeit suspekt: Zu schwärmerisch schienen den Neumusikanten, die sich unter anderem mit streng seriellen Kompositionstechniken beschäftigten, die weltschmerzenden Waldeinsamkeiten Schumanns oder auch des Spätromantikers Mahler. Dass letztere beiden in diesem Jahr einen runden Geburtstag feiern (Schumanns 200. und Mahlers 150.), nahmen der NDR-Chor unter Leitung vom Philipp Ahmann und die Schlagwerker von Elbtonalpercussion zum Anlass, im Chorschaffen der Jubiliare und jener zeitgenössischen Komponisten, die sich mit diesem intensiv auseinandersetzten, zu forschen.

Unter dem Motto "Urlicht" förderten sie dabei in der Halle400 erstaunliche Nähen zwischen der "aus der Welt gefallenen" Romantik und der Moderne zu Tage. Schumanns "Romanzen für Frauenstimmen und Klavier op. 69" vertonen zwar Gedichte unter anderem von Joseph von Eichendorff, traten aber nie aus dem Schatten der Vertonungen von Mendelssohn und Brahms. Gustav Mahler gar schrieb keine genuine Chormusik, sieht man mal von der Verwendung der Gesangsstimmen aus "Des Knaben Wunderhorn" in der 2. Sinfonie oder seinen "Liedern eines fahrenden Gesellen" ab. Letztere Kompositionen sind jedoch unbedingt chorisch gedacht, wie Clytus Gottwald in seinen Bearbeitungen für Chor a cappella von 2001 und 2009 beweist. Die Instrumentalstimmen verwebt Gottwald als die Texte vielfach brechende, raunende bis den Schmerz harmonisch zuspitzende Chorstimmen mit der eigentlichen Gesangsstimme zu einem klangflächigen Geflecht, das wie aus verborgenen Schichten des Bewusstseins und der Originalkompositionen herüberschallt.

Der NDR-Chor bedient sich dabei einer eher schlichten Gesangstechnik, die romantische Schweller und Rubati meidet, das Gefühl des "Ich bin der Welt abhanden gekommen", das Mahler wie Schumann umtrieb, aber gerade dadurch umso eindringlicher evoziert. Eine Seelenerforschung, die die Romantik als ausgesprochen modern ausweist. Wilhelm Killmayer schließt daran an, indem er in der Chorliedersammlung "... was dem Herzen kaum bewusst ..." (1995) Eichendorffs Texte noch einmal vertont, in einem Idiom, das wiederum das "Romantische" modernen Chorsatzes zeigt. Buchstäblich im Geiste Schumanns ist auch sein Stück "Schumann in Endenich" für Klavier, E-Orgel und Schlagzeug komponiert. Düster gräbt es in den Seelenqualen, die Schumann nicht nur im psychiatrischen Krankenhaus, sondern vor allem in seinen Innenwelten erlitt.

Dass Schumann das "romantische Gefühl" auch dramatisch dachte, zeigen "Mitternachtsstücke" aus seinem Tagebuch, Entwürfe zu Melodramen, die Mauricio Kagel für Chor- und Sprechstimmen und Instrumente vertonte. Sicher das "neutönendste" Stück des Abends, gleichwohl so nah an Schumanns Sinn und Sinnlichkeit, dass auch in ihm eine moderne Romantik aufscheint.

--- snap! ---

... und träume danach kongruent dieses:

In einem wuchernden Loft, in dem innovative Medienschaffende (Künstler halt ...) nicht nur völlig neuartige Produkte kreieren, sondern auch darauf pochen, dass Kreativität nur in völlig neuen Büroatmosphären und -surrounds gezüchtet werden könne. Etwa in dem Loft, wo sie die Wände bewalden mit schlingpflanzenartigen Orangen-Gewächsen. Die bringen keine prallen Früchte hervor, sondern nur Mini-Orangen, die es allerdings nicht nur aromatisch in sich haben. In jeder Frucht von Cocktail-Kirschen-Größe entfaltet sich immer noch eine Frucht. Bis zu fünf Litern Saftkonzentrat könne man aus jeder dieser orangenen Perlen gewinnen, versprechen die Künstler. In der Tat: Beißt man auf eine, explodiert eine Saftflut im Mund, bis man erbricht.

Lilly, der ich den Traum berichte, meint, derlei sei wohl sexuell zu deuten. Ich meine eher, es sei das Kern/Konfusionsprinzip der Poesie: In einem Wort steckt schon das ganze Gedicht, wenn nicht Epos.

Egal. Die Loft-Bewohner stellen noch mehr Erstaunliches aus: In weit gespreizten Beeten, beleuchtet von LEDs, züchten sie bio-digital-dynamische Disketten. Ich frage: "Wer braucht heute noch Disketten?" Sie kontern: "Wer brauchte zu Zeiten des Buchdrucks noch Papyrus?" Disketten seien eine Speicherform, die ihren Charme durch ihr Historisches, ihre Abgelebtheit, ihr Verschwundensein entwickelte. Nun gibt's also auch die Bio-Variante.

Wirkt ein bisschen wie aus Cronenbergs "Naked Lunch"-Verfilmung, wo Schreibmaschinen zu Käfern mit Mösen metamorphen. Allein, wenden die Züchter ein, auf eine Diskette passe ein halbes meiner di.gi.arien, wenn man nur das ASCII-sierte Wort nimmt. Und das war schließlich am Anfang dieses seltsamen neuerlichen Endes der EDV. Ich beiße in eine dieser Uhrwerk-Orangen und speichere diesen, genau diesen hier Sub(t)raumtext auf einer dieser bio-gedenkenden Disketten aus sündig-saftigem FLEISCH.

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